Paul David Tripp

Unser Problem heißt Sünde

Unser Problem heißt Sünde

Meinungsverschiedenheiten sind eine Sache, aber den anderen zu verabscheuen und ihm Schaden zufügen zu wollen, das ist eine ganz andere Sache. Die Saat der Rache ging sehr schnell auf, nachdem im Garten Eden die Sünde in die Welt gekommen war. Es begann damit, dass Adam und Eva jemand anderem die Schuld zuschoben. Die Sünde macht es viel einfacher, auf die Sünde, die Schwäche, das Versagen, die Unzulänglichkeit, die Heuchelei, den logischen Irrtum, die Unreife und die Voreingenommenheit anderer hinzuweisen, als unsere eigene zu erkennen und zu bekennen. Die Sünde führt dazu, uns selbst für viel gerechter zu halten, als wir es tatsächlich sind, und andere für viel ungerechter, als sie es in Wirklichkeit sind. Wir nehmen gewissermaßen ein Mikroskop zur Hand, um jedes winzige Detail der Texte von jemandem zu untersuchen, der nicht zu unserem Lager gehört, während wir den Texten Gleichgesinnter nur selten die gleiche Aufmerksamkeit schenken. Wir sind allzu schnell dabei, Schuld zuzuweisen. Wir sind allzu schnell dabei, den Charakter und die Motive hinter den Worten einer Person zu hinterfragen, die diese auf einer Webseite gepostet hat. Das ist überaus selbstgerecht und zerstörerisch für die Gemeinschaft, das Gespräch, die Mission und den Ruf des Volkes Gottes.

»Die Sünde macht es viel einfacher, die Schwäche, das Versagen, die Unzulänglichkeit, die Heuchelei, die Unreife und die Voreingenommenheit anderer hinzuweisen, als unsere eigene zu erkennen und zu bekennen.«

Die passive Art der Rache, den anderen zu beschuldigen, geht jedoch oft in eine aktivere Rache über, ihm Schaden zuzufügen. Wir lesen das in 1. Mose 4 in der Geschichte des schrecklichen Geschwistermordes. Wir sehen es aber auch in den sozialen Medien, wobei uns dieses Verhalten dort nicht immer so schrecklich vorkommt. Manche Posts sind eine Einladung zu einem Gespräch, andere eine Herausforderung zu einer Debatte, wieder andere stellen die Stichhaltigkeit einer Aussage oder die Qualifikationen der Person infrage, die den Beitrag geschrieben hat. Es gibt aber auch Posts, die darauf abzielen, die Reputation einer Person zu schädigen, ihre Stimme zum Schweigen zu bringen oder ihre Leser zu veranlassen, ebenfalls den Kontakt abzubrechen. Es ist der Versuch, das zu tun, wozu allein Gott weise und heilig genug ist (vgl. Röm 12,17–21). Ich finde die Warnungen in 3. Mose 19,17–18 sowohl ernüchternd als auch hilfreich: „Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst. Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR.“ Jemandem zu grollen, unvernünftig zu reagieren und Rache zu üben – das ist die Frucht des Hasses in deinem Herzen. Diese Pille mag schwer zu schlucken sein, aber ich möchte dich bitten, dein Herz für diese Wahrheit demütig zu öffnen. Könnte es sein, dass die Heftigkeit und der Charakter deiner Reaktionen in den sozialen Medien nicht von der Liebe zur Wahrheit oder dem Wunsch, Falsches aufzudecken, sondern vom Hass in deinem Herzen angetrieben werden? Hasserfüllter Groll gegen eine Person oder gegen die Gruppe, der sie angehört, wird niemals eine vernünftige Reaktion bewirken. Nein, er wird immer dazu führen, dass du gegen deinen Nächsten sündigst, passiv oder aktiv. Wer seinen Nächsten liebt wie sich selbst, wird niemals respektlosen Spott, Verunglimpfungen des Charakters einer Person, Strohmann-Beschuldigungen oder irgendeine andere Form verbaler Gemeinheiten hervorbringen. Wenn wir unser Verhalten anhand von 3. Mose 19,17–18 prüfen, müssen wir zugeben, dass sich hinter unserem öffentlichen Christentum eine Menge an privatem Hass zu verbergen scheint.

»Wenn wir unser Verhalten anhand der Bibel prüfen, müssen wir zugeben, dass sich hinter unserem öffentlichen Christentum eine Menge an privatem Hass zu verbergen scheint.«

Wir haben nicht nur ein Wahrheitsproblem, sondern auch ein massives Liebesproblem, das sich jeden Tag auf den Kommunikationsplattformen abspielt, die wir alle nutzen. Liebe liest und hört aufmerksam zu und unterstellt den Worten des Autors oder Sprechers die besten Absichten. Hass hingegen spricht laut, ohne sorgfältig zu lesen oder zuzuhören, und unterstellt den Worten des Autors die schlechtesten Absichten. Die Sünde verwandelt diejenigen, die dazu bestimmt sind, in liebevollen Gemeinschaften zu leben, in Feinde, die die Gesundheit eben jener Gemeinschaften schädigen, die vom Schöpfer dazu gedacht sind, ihr Wohlergehen und Wachstum zu fördern. Wenn du dich zu einer Reaktion genötigt fühlst, dann frage dich, was dich dazu motiviert.

Auch wenn es klar zu sein scheint, dürfen wir nicht vergessen, dass die Sünde diesseits der Ewigkeit immer noch ein Problem ist, das wir alle haben. Ja, die Macht der Sünde wurde durch das Leben, den Tod und die Auferstehung Jesu gebrochen, aber die Sünde ist immer noch da. Wir werden einst den endgültigen Tod der Sünde erleben, aber wir sind noch nicht so weit. Deshalb sind wir alle anfällig für die Verlockungen der Sünde. Wir sind dazu fähig, Hass in unserem Herzen zu tragen. Wir neigen dazu, Rache mehr zu lieben als Barmherzigkeit. Wir sind zu schockierender Selbstherrlichkeit und Selbstgerechtigkeit imstande. Auch neigen wir viel eher dazu, jemand anderem Schuld zuzuweisen, als die eigene Schuld zu bekennen. Wir alle bedürfen also der Gnade der Rettung – nicht zuerst der Rettung von anderen, sondern von uns selbst. Wir müssen mit David um ein reines Herz und einen neuen Geist beten (vgl. Ps 51). Und wir müssen in der Zuversicht leben, dass Gott, wenn wir um Hilfe schreien, uns gern hört und antwortet und uns mit einer Gnade beschenkt, die der Aufgabe mehr als gewachsen ist. Seine Gnade garantiert uns eine Zukunft, in der wir von diesem Gift befreit sein werden, aber sie verspricht uns auch einen Neuanfang hier und jetzt.

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