Carl Trueman

Die Wurzeln des modernen Selbst

Die Wurzeln des modernen Selbst

Das moderne Selbst und seine Kultur finden ihre unmittelbaren Wurzeln eindeutig in den intellektuellen Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhunderts.

Der offensichtlichste Einfluss liegt in der nach innen gerichteten psychologischen Wende in Bezug auf die Natur des Selbst. Jean-Jacques Rousseau ist für diese Entwicklung von zentraler Bedeutung, auch wenn er sich ebenso gut vor dem Hintergrund früherer Denker wie René Descartes und John Locke sehen lässt, die das aufklärerische Interesse an der Erkenntnistheorie und damit am Innenleben des wissenden Subjekts verkörperten. Doch bei Rousseau und später den Romantikern wird diese Hinwendung nach innen auf ethischer Ebene vollzogen und zur Grundlage für eine Kritik an der Gesellschaft. Diese Kritik richtet sich vor allem an die hochorganisierte Gesellschaft der städtischen Eliten und später an die Industrielle Revolution, die den Einzelnen zwingen, sich den Konventionen anzupassen, seine inneren Impulse zu verleugnen und damit sich selbst untreu zu werden, also nicht authentisch zu sein. Hier erscheint der expressive Individualismus (um den Begriff von Taylor und dem späteren MacIntyre zu verwenden) bzw. der psychologische Mensch (in der Terminologie von Rieff) erstmals als bedeutender Typus. Wenn heute Shoppingsüchtige, fanatische Sportfans oder Transgender-Personen ein inneres Wohlgefühl in den Mittelpunkt ihrer Vorstellung vom Glück stellen, dann stehen sie in einer kulturellen Linie mit Rousseau und den Romantikern. Die therapeutische Gesellschaft ist nicht erst in den 1960er-Jahren entstanden; ihre Ursprünge reichen Jahrhunderte zurück.

»Streicht man den Gedanken einer menschlichen Natur, bleibt nur noch das frei schwebende, subjektive Gefühl übrig.«

Doch die angesprochenen Denker sind nicht nur für die Anbahnung des heutigen expressiven Individualismus und des psychologischen Menschen von Bedeutung. Der ganze Begriff einer sakralen Ordnung, der nach Rieff für die Bewahrung und Weitergabe der Kultur so entscheidend ist, beginnt ebenfalls schon hier zu bröckeln. Jean-Jacques Rousseau, William Wordsworth, Percy Bysshe Shelley und William Blake vertrauten darauf, dass die Natur in sich eine innere, heilige Ordnung besitzt, auf der ein ethisches Leben aufgebaut werden kann, wenn nur die heuchlerischen Anhängsel der zivilisierten Gesellschaft entfernt werden können. Doch Friedrich Nietzsche, Karl Marx und Charles Darwin erwiesen sich als tödlich für diese Idee. Nietzsches toller Mensch verlangt von den höflichen Atheisten der Aufklärung, sich den Konsequenzen zu stellen, die sich aus der Ermordung Gottes ergeben. Jeder Versuch, auf eine Art von Metaphysik aufzubauen, sei aufzugeben. Marx sieht in der heiligen Ordnung – im Glauben an Gott – ein Instrument, um Arme und Elende zu manipulieren. Sie ist damit Ausdruck ihrer Entfremdung. Sowohl für Nietzsche als auch für Marx ist die sakrale Ordnung also ein Zeichen psychischer Erkrankung. Darwin versetzt dem Ganzen dann den Todesstoß: Indem er die Teleologie aus der Geschichte der Menschheit entfernt, eliminiert er die Vorstellung der menschlichen Sonderstellung, liefert wissenschaftliche Unterstützung für Nietzsches antimetaphysischen Standpunkt und fordert wie schon Marx, den Sinn des Lebens rein materiell zu betrachten. Dass seine Idee auch für wissenschaftlich Unbewanderte verständlich ausgedrückt werden konnte (der Mensch stammt vom Affen ab, dem er körperlich ähnelt), machte sein Denken zum vielleicht einflussreichsten von den Dreien. Und wie Rieff argumentieren würde, leitet der Tod der heiligen Ordnung die instabilen Kulturen bzw. »Antikulturen« seiner dritten Welten ein. Diese Welten haben nichts außer sich selbst, um ihre Überzeugungen und Verhaltensweisen zu rechtfertigen. Deshalb sind sie dazu verdammt, instabil und selbstzerstörerisch zu sein. Im Keim finden sie sich ebenfalls schon im 19. Jahrhundert. Denn zumindest bei Nietzsche, Marx und Darwin gibt es zahlreiche direkte Verbindungen zum antireligiösen, antimetaphysischen Denken, das unsere heutige Welt beherrscht.

»Im 19. Jahrhundert entstand ein soziales Vorstellungsschema, das intuitiv den Menschen als Souverän in den Mittelpunkt eines Universums stellt, dem er Form und Bedeutung verleihen kann.«

Dieser Tod der Metaphysik passt zur These von Alasdair MacIntyre, dass der moralische Diskurs heute so fruchtlos ist, weil ihm eine allseits anerkannte Grundlage fehlt, auf der moralische Fragen diskutiert und bewertet werden können. Sicherlich haben Rousseau und die Romantiker den Gefühlen bei der moralischen Erziehung einen hohen Stellenwert beigemessen, aber sie gingen von einer gemeinsamen menschlichen Natur aus. So war eine Verständigung darüber möglich, welche Dinge angemessenes Mitgefühl und Mitleid und welche Wut und Empörung hervorrufen sollten. Streicht man den Gedanken einer menschlichen Natur, bleibt nur noch das frei schwebende, subjektive Gefühl übrig. Der Keim des heutigen moralischen Durcheinanders, in dem laufend persönliche Befindlichkeiten mit moralischen Absolutheiten verwechselt werden, ist daher schon im 19. Jahrhundert zu finden. Nietzsche, Marx und Darwin haben jeder auf seine Weise die Metaphysik aus dem Weg geräumt und gefordert (zumindest die ersten beiden), dass die Menschen sich dem stellen und ihren Sinn und ihre Identität in diesem Licht neu modellieren. Dies alles führte zu einer weiteren Verschiebung: der von Mimesis zu Poiesis. Wenn die Gesellschaft und Kultur nur ein Konstrukt ist und die Natur keinen inneren Sinn oder Zweck hat, dann muss der Mensch selbst Sinn erschaffen. Nun wurde die Unterwerfung der Natur unter den Menschen nicht erst im 19. Jahrhundert erfunden. Handwerkzeuge und Pflüge sind keine Erfindungen des viktorianischen Zeitalters. Die offene Aufforderung Nietzsches, Sinn zu schöpfen, förderte jedoch zusammen mit der explosiven Kraft der Technik in der Industriellen Revolution zunehmend die Vorstellung, dass die Welt Rohmaterial menschlicher Kreativität ist und nicht Akt göttlicher Schöpfung. Im 19. Jahrhundert entstand damit ein soziales Vorstellungsschema, das intuitiv den Menschen als Souverän in den Mittelpunkt eines Universums stellt, dem er Form und Bedeutung verleihen kann. Weitere Aspekte unserer modernen westlichen Gesellschaftsvorstellung haben ebenfalls ihre Wurzeln im Denken jener Gelehrten. Nämlich der Gedanke, dass Religion – vor allem das Christentum – eine korrupte Ideologie ist. Sie werde von heuchlerischen religiösen Führern benutzt, um die Menschen daran zu hindern, wirklich glücklich zu sein. Dieses Denken ist heute Allgemeingut und findet ihren scharfen philosophischen Ausdruck bei Nietzsche und Marx. Die Überzeugung, dass Moralvorstellungen, insbesondere sexuelle Regeln, repressiv sind, dem menschlichen Glück entgegenstehen und soziale Missstände begründen, ist ebenfalls intuitiver Bestandteil des Denkens vieler Menschen in der westlichen Gesellschaft. Für eine solche Sichtweise auf die Moral haben wiederum Shelley, Blake, Nietzsche und Marx, jeder auf seine Weise, entsprechende Begründungen geliefert. Und wir sehen hier einen Keim für Rieffs Antikultur: Wenn Kulturen durch die sexuellen Verhaltensweisen definiert werden, die sie verbieten, dann bringen diejenigen, die jegliche Sexualtabus überwinden wollen oder das »Du sollst nicht« als inhärent lebensverneinend und böse betrachten, keine alternative Kultur, sondern eine Antikultur.

Rieffs Antikulturen weisen ein weiteres Merkmal auf, das wir im 18. und 19. Jahrhundert aufkommen sehen: Sie sind antihistorisch. Diese Haltung manifestiert sich auf zwei Weisen: Zum einen ist da die psychologische Betonung bei Rousseau und den Romantikern mit ihrer Vorstellung, dass die Gesellschaft und Kultur das authentische Individuum deformiert und korrumpiert. Das bedeutet, dass die Geschichte, die ja für die Gesellschaft und Kultur konstitutiv ist, als etwas betrachtet werden muss, das zu überwinden, zu transzendieren oder zu löschen ist, wenn der einzelne Mensch wirklich der sein soll, der er ist. Dies ist auch die grundlegende Logik des Transgenderismus. Doch sie hat eine lange Tradition und weist deutliche Affinitäten zur Romantik auf. Der zweite Ausdruck dieser antihistorischen Tendenz findet sich im Denken von Nietzsche und Marx. Beide Männer sehen in der Macht den Schlüssel zur Geschichte. Für Nietzsche ist die moderne christliche Gesellschaft das Ergebnis des manipulativen Einsatzes religiöser Ideen durch die Schwachen zur Unterwerfung der Starken. Die Moral hat eine historische Entstehung, und bei näherer Betrachtung dieser Genealogie stellt sich heraus, dass sie ein Betrug ist. Sie ist eine Masche, damit sich die Starken für ihre Stärke schämen und die Schwachen auf ihre Schwachheit stolz sind. Das Gute wurde zum Bösen und das Schlechte zum Guten. Für Marx geht es in der Geschichte um den Klassenkampf und die Unterdrückung und Ausgrenzung der Arbeiterklasse. Moral ist schlicht die Ideologie, mit der die herrschende Klasse ihre Untertanen unterwürfig bleiben lässt.

»Das Gute wurde zum Bösen und das Schlechte zum Guten.«

Nietzsche und Marx liefern ein Geschichtsbild, in dem die traditionellen Helden in Wirklichkeit die Bösewichte sind. Die Darstellung von Geschichte wird zum Teil eines größeren Machtdiskurses, der die Ausgegrenzten am Rande hält. In ihren unterschiedlichen Philosophien sehen wir also das erste Aufkommen kritischer Geschichtsphilosophien. Sie stellen die Dinge auf den Kopf. Die Opfer und Schurken werden zu wahren Helden. Sie sehen das Ziel der Geschichte in ihrer Überwindung und Transzendierung. Mit den Worten Rieffs liefern sie die philosophische Grundlage für eine Antikultur. Spätere Generationen von Denkern werden sie genau dafür nutzen. Schließlich gibt es noch eine weitere Besonderheit unserer Moderne, für die Marx’ Denken ein früher und einflussreicher Vorbote ist: die Abschaffung des Vorpolitischen. Indem er die menschliche Identität als ökonomisch bestimmt ansieht und die Geschichte als einen politischen Kampf versteht, der durch ökonomische Beziehungen bestimmt wird, macht Marx alles bewusste menschliche Handeln zu etwas Politischem. Alles wird politisiert, von religiösen Organisationen bis hin zur Struktur der Familie. In der Welt von Marx gibt es keinen privaten, vorpolitischen Raum mehr. Das ist grundlegend für die Welt von heute, in der alles politisiert wird: von den Kindergärten und Pfadfindergruppen für Mädchen bis hin zu den Adoptionsbehörden, Sportmannschaften und der Popmusik.

Ist unser Zeitalter einzigartig? In mancher Hinsicht vielleicht. Das 18. und 19. Jahrhundert ist ausschlaggebend für die Empfindungen der heutigen sozialen Vorstellungswelt. Die Vergangenheit mag »ein fremdes Land« sein, wie L.P. Hartley in The Go-Between schrieb, aber sie bot fruchtbaren Boden für die Saat der Gegenwart.

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