Es geht bei LGBTQ+-Debatten nicht in erster Linie um Sexualmoral, auch wenn diese für Christen ein berechtigtes Anliegen ist. Die Bibel sagt etwas über den Leib, wie er in sexueller Hinsicht angelegt und gedacht ist, und dass Sex eine besondere Bedeutung hat. Den Leib sexuell anders einzusetzen und sich auf sexuelle Handlungen einzulassen, die nicht zur biblischen Zielbestimmung passen, ist falsch und muss von der Kirche in ihrer Lehre und Praxis unzweideutig angesprochen werden. Die LGBTQ+-Diskussion geht viel jedoch tiefer, weil sie mit Identitätsfragen verbunden ist. Es geht darum, was wir Menschen im Tiefsten sind. Das Problem dabei ist, dass wir in dieser Welt alle vom expressiven Individualismus, der sich in sexueller Identität manifestiert, beeinflusst sind.
Die zweite Auswirkung ist daher, dass man die Realität und Macht dieser Prägung nicht unterschätzen sollte und wir begreifen müssen, wie sehr dies auch uns selbst berührt. Die Vorstellungen, die wir als Christen bezüglich der Gesellschaft haben, unterscheiden sich oft zu wenig von denen der uns umgebenden Kultur. Wir können kinderleicht in die Verwendung von Kategorien hineinrutschen, die eigentlich irreführend sind und Klarheit in zentralen Fragen verhindern.
So veröffentlichte der christliche Verlag Zondervan im Juni 2019 ein Buch mit dem Titel Costly Obedience: What We Can Learn from the Celibate Gay Christian Community (dt. Kostspieliger Gehorsam: Was wir von der christlichen Gemeinschaft enthaltsam lebender Schwuler lernen können). Abgesehen von den Fragen, die sich derzeit unter anderem um die Legitimität des Begriffs »enthaltsamer bzw. zölibatärer schwuler Christ« ranken, weckt die Verwendung des Wortes »Kosten« unsere besondere Aufmerksamkeit. Nur in einer Welt, in der man sich in der Regel über seine Sexualität und seine sexuelle Erfüllung identifiziert und bestätigt – in der diese Dinge auf einer sehr ausschlaggebenden Ebene definieren, was ein Mensch ist – kann der Zölibat wirklich als kostspielig betrachtet werden. Nur in einer Welt, in der sexuelle Identitäten – und insbesondere nicht-heterosexuelle sexuelle Identitäten – ein besonderes kulturelles Gütesiegel genießen, kann der Zölibat einer bestimmten Gruppe als besonders hart oder aufopferungsvoll hingestellt werden.
Die traditionelle christliche Sexualmoral fordert Enthaltsamkeit für alle, die unverheiratet sind. Und von Verheirateten erwartet sie Treue. Streng genommen ist es für einen Single nicht schwerer oder aufopferungsvoller, auf Sex zu verzichten, als für einen Verheirateten, auf Seitensprünge, Stripclubs und Prostituierten zu verzichten – oder für jeden, andere nicht zu bestehlen oder zu verleumden. Das scheint aber nicht der Fall zu sein, weil die Sittlichkeit, das moralische Gerüst unserer Kultur, so sehr vom Triumph des Erotischen und dem damit verbundenen Umsturz der traditionellen sexuellen Sitten geprägt ist. Heute auf Sex zu verzichten heißt für die Welt um uns herum, sein wahres Ich zu opfern und nicht der sein zu können, der man wirklich ist. Das ist wirklich ein hoher Preis – aber eben nur aus einer Perspektive, die von einer unkritischen und unreflektierten Übernahme der auf Freud zurückgehenden Kategorien sexualisierter Identität geprägt ist.
Dass die sexuelle Revolution in ihrer Betonung von Sexualität als Identitätsgrundlage historisch einzigartig ist, macht die aufgeworfenen Fragen von Identität und sexuellem Begehren natürlich nicht weniger wirklich. In meinem Buch habe ich auf Taylors wichtige, von Hegel abgeleitete Erkenntnis hingewiesen, dass das, was wir sind, durch Dialog zwischen uns und der Welt um uns geformt ist. Der Wunsch des Menschen, dazuzugehören, anerkannt zu werden, authentisch zu sein, wird durch die Sittlichkeit der Gesellschaft geprägt, in der wir leben. Das äußere Umfeld ist entscheidend und die Bedürfnisse, die es weckt, können neuartig und gleichzeitig sehr real sein. Wer stets an seinem iPhone klebt, steht vielleicht frühmorgens vor dem Laden in der Schlange an, um am Tag der Markteinführung das neueste Modell zu ergattern. Dieselbe Person ist bestimmt verzweifelt und frustriert, wenn das Gerät kaputtgeht oder kein Netz verfügbar ist. Bedürfnis und Frustration sind real, auch wenn sie jemandem in den 1960ern noch unbekannt gewesen wären, geschweige denn in den 1460ern. Die menschliche Natur mag unveränderlich sein in dem Sinne, dass wir immer nach dem Ebenbild Gottes geschaffen bleiben. Aber unsere Wünsche und unser Selbstverständnis werden tatsächlich tiefgreifend von den spezifischen Bedingungen der Gesellschaft geprägt, in der wir leben. Dass es für Shakespeare keine iPhones gab, verlagert die damit verbundenen Wünsche nicht quasi ins Reich der Einbildung.