Paul David Tripp

Das Selbst im Konflikt

Das Selbst im Konflikt

Das eigene Ich verwandelt Beziehungen in ein Minenfeld. Es steht im Weg, mischt sich ständig ein und macht die Dinge komplizierter als nötig. Du weißt nie, wann du einen falschen Schritt tust. Das Ich macht Worte zu Waffen, Segnungen zu Ansprüchen und Wünsche zu Forderungen. Es führt dazu, dass du dich selbst entschuldigst und gleichzeitig kritisch und verurteilend gegenüber anderen bist. Unzufriedenheit wird so zum Normalzustand und Dankbarkeit eine Seltenheit. Du findest immer Gründe, um unglücklich zu sein, und möchtest meist selbst die Lorbeeren einheimsen. Du nimmst dich zu wichtig und kannst dich dadurch schlechter in andere hineinversetzen. Du liebst Macht und Kontrolle und empfindest Dienen als lästig. Du denkst zu viel darüber nach, wie du dich fühlst, wie du dich angesichts jener Gefühle fühlst und wie du dich fühlst, wenn andere auf diese Gefühle reagieren. Das Ich gaukelt dir vor, dass du besser Bescheid weißt, als du es tatsächlich tust, während du die Expertise anderer ablehnst. Es redet dir ein, dass deine Erfahrung die Erfahrung ist, während du die Erfahrungen anderer abwertest. Dadurch wird alles persönlich: Alles dreht sich auf die eine oder andere Art und Weise um dich. Es führt dazu, dass du viel redest und wenig zuhörst. Du führst ein Leben, das in sich zusammenfällt – was für eine gestörte und unbefriedigende Existenz. Das ist das Gegenteil von dem, wie dein Leben aussehen sollte und wozu du geschaffen wurdest.

Selbstbezogenheit

»Es gibt keinen attraktiveren, verführerischeren und trügerischeren Götzen als den Götzen des Selbst.«
Diese traurige Art zu leben nennt man Egoismus. Achte darauf, wie ich dieses Wort verwende. Ich meine damit nicht nur, dass du kein sehr großzügiger Mensch bist, weil du alles für dich haben willst. Ich will damit sagen, dass die Motivation für alles in deinem Leben in dir selbst liegt – in deinem Ich, deinem Selbst, deinem »Ego«. Du stehst im Zentrum deiner Welt. Alles, was du tust und sagst, dient nur deinem eigenen Nutzen und Vergnügen. Du selbst bist das, was dich motiviert. Du selbst machst dich glücklich. Du bist dein Ziel. Du bist zutiefst selbstbezogen und von dir selbst beherrscht. Dein ganzer Lebensstil ist selbstbestimmt – unabhängig davon, für wen du dich hältst und was du zu glauben vorgibst.

Vergötzung des Selbst

Es kann gar nicht oft genug gesagt und wiederholt werden (besonders in unserer Zeit), dass es keinen attraktiveren, verführerischeren und trügerischeren Götzen gibt als den Götzen des Selbst. Man könnte behaupten, dass jede Missachtung der Gebote, Verpflichtungen und Prinzipien der Heiligen Schrift in der Anbetung des eigenen Ichs verwurzelt und von ihr motiviert ist. Das war der Grund für den ersten Akt des Ungehorsams im Garten Eden und veranlasst uns auch heute noch, Gottes Grenzen zu überschreiten. Deshalb sagt Paulus, dass Jesus gekommen ist, damit die Menschen nicht mehr »sich selbst« leben (vgl. 2Kor 5,14–15). Wenn wir statt Gott uns selbst anbeten, werden wir einfach nicht so leben, handeln, reagieren und kommunizieren, wie Gott es beabsichtigt und befohlen hat. Wenn wir Gottes Geboten nicht gehorchen, dann verstoßen wir nicht gegen irgendeinen abstrakten Moralkodex, sondern wir zerstören die anbetende Beziehung zu dem Herrn aller Herren, für den wir geschaffen wurden. Jeder Ungehorsam verleugnet Gottes rechtmäßigen Platz und setzt uns selbst an seine Stelle. Deshalb sagte David nach seinem Ehebruch und Mord: »An dir allein habe ich gesündigt und übel vor dir getan« (Ps 51,6). Jeder Akt des Hasses, der Gemeinheit, der Ablehnung, der Respektlosigkeit, der Gewalt, der Vorurteile und der Verletzung eines Ebenbildes Gottes wird durch die Selbstanbetung angefacht und befeuert.

Selbstanbetung in der Gemeinde

Aber, so fragst du, was hat das mit der Gemeinde zu tun, die doch voller Menschen ist, die ihr Leben dem Herrn übergeben haben? Nun, wenn die DNA der Sünde die Selbstanbetung ist und wenn alle unsere Sünden zwar vergeben, aber noch nicht vollständig getilgt sind, dann wird es in uns immer noch Restbestände der alten Selbstanbetung geben. Wir alle müssen jeden Tag mit der Versuchung des Egoismus kämpfen – sei es, dass wir auf jemanden wütend werden, der uns widersprochen hat, oder dass wir uns über Autofahrer ärgern, die uns im Straßenverkehr behindern. Sei es, dass wir ungeduldig sind, wenn uns unsere Kinder zu ungelegener Zeit beanspruchen, dass wir neidisch sind, dass ein Freund Segnungen genießt, die wir selbst gern hätten, oder dass wir einfach das tun, was uns gefällt, anstatt was Gott für richtig erklärt. Solange die Sünde noch in uns lebt, wird auch unter Christen das Problem der Selbstzentriertheit bestehen. Deshalb gibt es so viele Konflikte in der Gemeinde. Bei den wenigsten Auseinandersetzungen geht es nur um biblische oder theologische Streitfragen. Es ist oft Wichtigtuerei, die es uns schwer macht, miteinander zu leben und einander zu dienen. Kleine Ärgernisse, unbedeutende Streitereien, das Streben nach Anerkennung und Kämpfe um Kontrolle behindern das Leben und die Mission, zu der Gott uns berufen hat. Ja, selbst in der Glaubensgemeinschaft kollidiert die Anbetung Gottes mit der Selbstanbetung. Das zeigt sich auch in der destruktiven Kultur der Reaktivität, die in den sozialen Medien und unter Christen herrscht, die eigentlich zu folgendem Lebensstil berufen worden sind: »in aller Demut und Sanftmut, in Geduld. Ertragt einer den andern in Liebe und seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens« (Eph 4,2–3). Wenn wir diesen göttlichen Lebensstil mehr liebten als unseren eigenen, gäbe es diese toxische Kultur nicht mehr.

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