Gavin Ortlund

Wofür lohnt es sich zu kämpfen?

Wofür lohnt es sich zu kämpfen?

Vor einigen Jahren verfolgte ich, wie ein befreundeter Pastor seine Pastorenstelle in Kanada aufgab, um nach Frankreich zu ziehen und den dortigen Gemeinden zu dienen. Sein Französisch war schon ziemlich gut, und die geringe Anzahl evangelikaler Gemeinden dort bewegte ihn sehr. In dem Alter, in dem viele Menschen schon an den Ruhestand denken, fühlte er sich also von Gott berufen, diese große Not zu lindern, und machte sich auf den Weg.

Er war jedoch keine drei Jahre dort, als er aufgefordert wurde, wieder zu gehen von derselben Gruppe evangelikaler Gemeinden, die ihn zuvor herzlich eingeladen und um Hilfe gebeten hatte.

Um dieselbe Zeit lernte ich einen jungen Mann kennen, der als Missionar in ein slawisches Land ging, das seine Hilfe auf jeden Fall gebrauchen konnte. Ihn bat man schließlich auch, wieder heimzugehen. Er war nicht einmal zwei Jahre dort.

Der erste Mann kam aus einem Gemeindebund, der Alkoholkonsum unter Christen strikt ablehnte. Mit der Auffassung, dass diese Haltung moralisch die einzig richtige war, versuchte er, seine französischen Glaubensgeschwister von der Richtigkeit dieser Position zu überzeugen. Aus ihrer Sicht war er allerdings nicht nur im Unrecht selbst wenn er recht gehabt haben sollte, machte er ihrer Wahrnehmung nach aus einer Mücke einen Elefanten. Er verschanzte sich hinter seiner Meinung und brachte das Thema so häufig zur Sprache, dass seine Position schon bald unhaltbar wurde.

Der zweite Mann stammte aus einer lockeren Konfession, von der er viele seiner ethischen Praktiken (man kann sie kaum Prinzipien nennen) übernommen hatte. Die slawischen Glaubensgeschwister empfanden ihn als leichtsinnig und undiszipliniert: Man kann doch nicht an Orten baden gehen, wo auch Frauen sind – das machen doch Ungläubige! Sie zeigen viel nackte Haut und untergraben so die Bemühungen der Christen um Keuschheit und Heiligkeit. Leider empfand er ihre Haltung als Einmischung in seine christliche Freiheit, und schon bald wurde er zur Rückkehr in sein Heimatland gedrängt.

»Im Bereich der Theologie sind einige theologische Fragen wichtiger oder dringlicher als andere. Christen müssen daher entscheiden, wie sie ihre Energie am besten einsetzen und wo ihre theologischen Prioritäten liegen sollen.«

Beide Beispiele handeln von den Herausforderungen kulturübergreifender Gemeindepraktiken, die Gavin Ortlund nicht direkt anspricht. Hinter diesen Fragen verbirgt sich jedoch eine noch größere Frage, die er in diesem Buch aufschlussreich und nützlich untersucht. Es ist die Frage der theologischen Triage.

Soweit ich weiß, wurde der Ausdruck »theologische Triage« von Albert Mohler geprägt, der Analogien zur medizinischen Triage zieht. Bei einem schrecklichen Unfall oder einer Naturkatastrophe kann es sein, dass es nicht genügend Ersthelfer gibt, um alle Opfer sofort zu versorgen. Entscheidungen müssen getroffen werden: Soll die Aufmerksamkeit der Frau mit schweren Verbrennungen, dem Mann mit starken Blutungen oder dem Kind mit einigen Knochenbrüchen gelten? Es liegt in der Verantwortung des Triage-Teams, diese schwierigen Entscheidungen zu treffen. Auch im Bereich der Theologie sind einige theologische Fragen wichtiger oder dringlicher als andere. Christen müssen daher entscheiden, wie sie ihre Energie am besten einsetzen und wo ihre theologischen Prioritäten liegen sollen.

Ortlund entwickelt in seinem System der theologischen Triage vier Ebenen: (1.) Lehren, die für das Evangelium wesentlich sind; (2.) Lehren, die für die Gesundheit und die Praxis der Gemeinde nötig sind, sodass Christen sich darüber in verschiedene Bünde und Gemeinden aufteilen; (3.) Lehren, die für den einen oder anderen Zweig der Theologie wichtig sind, aber nicht zu Spaltungen führen sollten; (4.) Lehren, die für das Zeugnis des Evangeliums und die Zusammenarbeit im Dienst unwichtig sind.

Natürlich distanzieren sich einige Gläubige von solchen Einteilungen. Wenn die Bibel etwas behauptet, so erklären sie, dann ist es Gottes Wahrheit und darf nicht relativiert oder für wichtiger (oder weniger wichtig) erklärt werden als ein anderer Teil von Gottes Wahrheit. Andere greifen auf das zurück, was man als »Theologie des kleinsten gemeinsamen Nenners« bezeichnen könnte. Die Frage, die sie interessiert, lautet: Was ist das Mindeste, das ein Mensch glauben muss, um Christ zu sein? Mit diesen beiden Strategien werden alle Versuche einer theologischen Triage leichtfertig abgetan.

Gerade hier ist Ortlund ein guter Ratgeber. Er gibt den nützlichen Hinweis, dass Paulus bestimmte Lehren als »das Wichtigste« bezeichnen kann (1 Kor 15,3 NGÜ), während bei anderen Glaubensüberzeugungen unterschiedliche Meinungen zulässig sind (vgl. Röm 14,5). Wenn der Apostel sich in verschiedenen Situationen und Kulturen wiederfindet, hat er die Freiheit, unterschiedliche Dinge zu betonen, da er seine Zuhörer im Blick hat (vgl. seine Predigt in Apg 13 in einer Synagoge und jene in Apg 17 auf dem Areopag). Dieses Buch versucht, Klarheit beim Nachdenken über diese Fragen zu fördern. Wenn Ortlund zu konkreten Beispielen kommt, ist er weniger darauf bedacht, dass du allen seinen Schlussfolgerungen zustimmst. Sein Ziel ist vielmehr, dir die Notwendigkeit theologischer Triage aufzuzeigen. Dies wird umso wichtiger, wenn die theologische Triage mit den Herausforderungen der interkulturellen Gemeindearbeit überlagert wird.

Dieses Buch ist eine kleine Übung darin, wie man die Bibel demütig, sorgfältig, treu und weise liest und einsetzt – wie Arbeiter, die sich nicht zu schämen brauchen (vgl. 2 Tim 2,15).


Dieser Artikel wurde adaptiert aus D. A. Carsons Vorwort zu Wofür es sich zu kämpfen lohnt – und wofür nicht von Gavin Ortlund.

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