Gott rettet nicht durch die Mittel, die wir erwarten würden, und auch nicht durch Stärke. Die meisten Richter sehen eher nach einer Fehlbesetzung aus und ihr Sieg widerspricht jeder weltlichen Logik. Gideon kommt aus einer Familie, die als »geringste« (6,15) ihres Stammes gilt, welcher wiederum generell als schwach betrachtet wird – und Gideon soll den Midianitern mit nur einer Handvoll Männer entgegentreten.
Dieses Prinzip kommt auch in 2. Korinther 12,7–9 zum Ausdruck. Paulus hatte das Privileg, in einer Vision den Himmel sehen zu dürfen (V. 2–6). Er wird aber von einem Leiden geplagt: Ihm ist »ein Pfahl ins Fleisch« gegeben, »nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll« (V. 7). Wegen dieser Sache hatte Paulus »dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche« – doch nach Gottes Willen sollte Paulus auf seine körperliche Gesundheit verzichten und diesen »Pfahl« behalten. Warum? »… damit ich mich nicht überhebe.« Paulus sollte nicht nach eigener Ehre trachten und sich nicht mit seiner eigenen Kraft brüsten. Stattdessen lernt er, was Gott auch Gideon lehren möchte: »Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich [d. h.: zeigt sich am deutlichsten] in der Schwachheit« (V. 9).
Paulus reagiert mit grenzenlosem Vertrauen, er beweist jene Demut, die das Gegenteil von Überheblichkeit ist: »Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne … denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark« (V. 9–10). Damit sagt er gewissermaßen: »Seht her, wie schwach ich bin. Alles, was geschehen ist, war Gottes Handeln. Seht nur, wie stark er ist, dass er sogar durch mich wirken kann! Lob sei ihm!«
Gott wirkt nicht trotz unserer Schwachheit, sondern weil wir schwach sind. Seine rettende Kraft wirkt nicht dann, wenn wir stark sind (oder stark zu sein meinen), sondern wenn wir schwach sind und das auch wissen.
Wie sieht das in der Praxis aus? Erstens ist dieses Prinzip die Grundlage für die Erlösung als solche. Wir können nicht gerettet werden, solange wir meinen, wir seien gut und kompetent. Gottes rettende Kraft wirkt nur an uns, wenn wir bekennen, dass wir in uns selbst weder würdig noch gut sind.
Zweitens erklärt dieses Prinzip, wie Umkehr funktioniert. Erst wenn wir vor Gott innerlich umkehren und über unser Versagen trauern – also erst dann, wenn wir uns unserer Schwachheit bewusst sind –, wird uns Gottes Liebe und Gnade kostbar und real. Stell dir vor, jemand sagt zu dir: »Ich habe eine deiner monatlichen Rechnungen bezahlt.« Das ist auf jeden Fall ein Grund zur Freude, aber du wirst erst dann wissen, wie sehr du dich darüber freuen solltest, wenn du hörst, wie hoch diese Rechnung war. Je umfassender wir verstehen, wie hoch unsere Schulden sind, desto größer wird unsere Freude darüber sein, dass sie bezahlt wurden. Genauso erleben wir erst dann die Stärke, die aus dem Wissen um Gottes Gnade und Liebe erwächst, wenn wir unsere eigene Schwachheit erkennen. Jesus macht deutlich: Wer meint, ihm müsse nur wenig vergeben werden, der wird auch denjenigen nur wenig lieben, der ihm vergeben hat (vgl. Lk 7,47).
Drittens erklärt dieses Prinzip, wie wir normalerweise als Christen wachsen. Unsere Probleme entstehen, weil uns gute Dinge einfach zu wichtig werden. Wir erleben Wut, Angst und Enttäuschung wegen unserer »Götzen« – aus guten Dingen wurden solche, von denen wir uns (auf emotionaler Ebene) erhoffen, dass sie uns retten und uns Wert geben. Erst wenn diese Dinge ins Wanken kommen oder uns weggenommen werden, kehren wir um und finden unsere Sicherheit und Bedeutung im Herrn. Das gibt uns Stabilität und Tiefe. In der vorliegenden Geschichte wird dieses Prinzip hervorragend widergespiegelt. Gideon und ganz Israel standen in der Gefahr, ihr Vertrauen auf ihre Krieger zu setzen, aber Gott nimmt sie ihnen nahezu vollständig weg. Der Sieg wird Israel nun lehren, Gott auf neue Weise zu vertrauen. Als sich die verbliebenen dreihundert Mann auf den Kampf gegen die midianitischen Scharen vorbereiteten und als sie sahen, welch ein kleines Häuflein sie waren, fühlten sie sich zweifellos äußerst schwach. Wie sollten sie bloß in diesen Kampf ziehen? Einzig in dem Wissen, dass sie zwar schwach sind, Gott aber stärker ist als das größte Heer.