Es handelt sich bei Psalm 91 um einen außerordentlich schönen und beruhigenden Psalm. Vers für Vers verströmt er Zusagen von Sicherheit, Sieg und Ehre. Es ist nicht verwunderlich, dass er seit Jahrhunderten der Lieblingspsalm vieler Menschen ist.
Dennoch sollten wir vorsichtig sein. Vielleicht müssen wir gerade hier, noch mehr als irgendwo sonst, der Versuchung widerstehen, kurzerhand die »schönen« Stellen der Schrift auf uns selbst zu beziehen – nur weil wir gern wollen, dass das für uns zutrifft. Die große Frage – die Frage, an der jede Segnung hängt – lautet: Wem werden diese Verheißungen gegeben? Wir müssen diese Frage ehrlich stellen und beantworten, bevor wir darüber nachdenken, wie wir diesen Psalm singen und wie wir mit ihm umgehen. Zunächst lautet die traurige Antwort jedoch: Sie gehören dem König aus Davids Geschlecht. Das bedeutet letztlich, dass sie dem größeren König gelten, der alle Verheißungen an David erben wird. Jesus Christus ist der Mensch, der in all den Gefahren seines irdischen Lebens völlig unter dem Schirm Gottes saß, seines Vaters, des Höchsten und Allmächtigen, des Bundesgottes. Er ist der Eine, der stets über seinen Vater sagte: »Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe« (V. 2).
Als der Teufel diesen Psalm zitierte (V. 11–12, siehe Mt 4,6 und Lk 4,10–11), hatte er mit seiner Implikation recht, dass diese Verheißungen für Jesus, den gesalbten König, den Sohn Gottes galten. Womit lag der Teufel dann falsch? Er verdrehte die Verheißung der Sicherheit und nahm sie aus dem untrennbar mit ihr verbundenen Kontext der treuen, liebenden Bundesbeziehung heraus. In dem Moment, in dem Jesus eine Verheißung als eine Art Zauberstab verwendet hätte, den er eigenständig und unabhängig von seinem Vater schwingen kann, hätte er die Bande der treue Liebe, auf denen die Verheißung beruht, zerrissen. Nein! Diese Verheißung gehört dem Sohn, der seinem Gott und Vater mit hingebungsvoller Anbetung und rückhaltloser Liebe treu anhängt. Dieser Sohn, und zwar einzig dieser Sohn, erbt tatsächlich all die Verheißungen des Psalms.
Er erbte sie durch den Tod selbst. Denn obwohl die Leiden Jesu scheinbar die Verheißungen zunichtemachten, bedeuteten die Auferstehung, Himmelfahrt und die Einsetzung Jesu im Himmel das endgültige »Ja!« zu sämtlichen Verheißungen. Dieser König trat tatsächlich die Schlange nieder (V. 13). Er ist der Same der Frau, der den Kopf der Schlange zertreten sollte (vgl. 1Mose 3,15), und das tat er durch seinen Sieg am Kreuz.
Doch was ist mit uns? Das Wunder – das überragende Wunder – der biblischen Geschichte ist, dass sie uns zeigt: All die Segnungen dieses Psalms gehören tatsächlich uns. Sie gehören uns nicht von Natur aus, denn keiner von uns verdient es, sie zu erben. Sie gehören uns aber unumstößlich in Christus, der uns auf der Grundlage seines Gehorsams allen geistlichen Segen erworben hat (vgl. Eph 1,3; Röm 5,12–21). Der großartige Abschluss von Römer 8 ist eine Art neutestamentlicher Kommentar zu Psalm 91: »Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?« (Röm 8,32). Der Schlüssel sind die Worte »mit ihm«. Denn »mit Christus« – vereint mit Christus, durch den Geist – darf jeder Gläubige die erstaunlichen Verheißungen von Psalm 91 für sich in Anspruch nehmen. Sie gehören uns in Christus!
Im Jahr 1956 wurden Jim Elliot und vier weitere Missionare von Angehörigen jenes Amazonas-Stammes in Ecuador getötet, denen sie das Evangelium bringen wollten. Elliot war 28 Jahre alt. Seine Witwe Elisabeth schrieb seine Geschichte auf und wählte den Buchtitel in Anlehnung an Vers 1 dieses Psalms: Im Schatten des Allmächtigen. Es war ein mutiger und aussagekräftiger Titel für die Geschichte eines Mannes, der einen vorzeitigen und gewaltsamen Tod erlitt. Sich in Christus im Schatten des Allmächtigen zu befinden, bewahrt uns nicht vor Leid, Krankheit oder gar einem gewaltsamen Tod. Es meint etwas Tieferes – wie auch bei Jesus, dem Herrn: Es bedeutet die Zusicherung der leiblichen Auferstehung. Im Leben Jesu kam die Erfüllung der Verheißungen dieses Psalms erst nach seinem Leiden und Sterben. In seiner leiblichen Auferstehung sehen wir ihn vor jedem Angriff und aus allem Leiden gerettet. Dieser Psalm nahm Jesus nicht vom Leiden aus (wie der Versucher meinte), sondern er versprach die endgültige Rettung von allen Versuchungen. Das gilt auch für uns, die wir mit unserem Herrn leiden, um mit ihm verherrlicht zu werden (vgl. Röm 8,17).