Paulus spricht in Galater 4 Menschen an, die »unter dem Gesetz sein« wollen (V. 21). Er knöpft sich die galatischen Christen vor, die meinen, dass sie, um von Gott angenommen zu werden, das Werk Christi durch ihre eigenen Werke ergänzen müssen. Paulus meint mit der Formulierung »unter dem Gesetz« nicht, dass man das Gesetz befolgt, sondern dass man es als Mittel sieht, bei Gott Punkte zu sammeln. Das ist eine Botschaft, die gerade für die Frommen eine Herausforderung ist. John Stott schreibt:
»Es gibt heute viele solche Menschen. Sie sind nicht Judaisierer wie die Adressaten des Paulus, aber Leute, deren Religion gesetzlich ist und die sich einbilden, dass man durch das Halten bestimmter Regeln zu Gott kommt.«
Was das Thema »Gottes Gesetz« betrifft, gibt es genau vier Arten von Menschen in der Welt:
Menschen, die das Gesetz befolgen und sich darauf verlassen. Diese Leute sind unter dem Gesetz und in der Regel selbstgefällig, selbstgerecht und erhaben über die anderen. Nach außen hin sind sie absolut sicher, dass sie Gott recht sind, aber tief drinnen lauert eine fundamentale Unsicherheit, denn wer kann schon sicher sein, dass er die Messlatte auch wirklich zu hundert Prozent erreicht? Das macht diese Menschen nervös, überempfindlich gegen Kritik und am Boden zerstört, wenn ihre Gebete nicht erhört werden. Das gilt natürlich für Angehörige aller Religionen, aber ich denke hier vor allem an Leute, die eisern zur Kirche gehen. Sie haben eine Menge gemeinsam mit den Pharisäern zur Zeit Jesu.
Menschen, die sich auf das Gesetz verlassen, es aber nicht befolgen. Diese Leute haben ein Gewissen, das stark durch das Gesetz geprägt ist. Sie wissen genau, wie sie eigentlich leben sollten – aber sie schaffen es nicht. Das führt dazu, dass sie meist demütiger und auch toleranter sind als die »Pharisäer«. Aber sie haben auch viel mehr Schuldgefühle, neigen zu Stimmungsschwankungen und haben manchmal große Angst vor religiösen Themen. Manche von ihnen gehen zur Kirche, aber nur als Randsiedler, weil ihre geistliche Selbstachtung gestört ist.
Menschen, die weder das Gesetz befolgen noch sich darauf verlassen. Dies sind die Leute, die die Vorstellung von einem Gesetz Gottes auf den Müll geworfen haben. In ihrem Denken sind sie Säkularisten oder Relativisten oder haben eine sehr verschwommene Spiritualität. Sie wählen ihre moralischen Normen meist selbst und behaupten dann, dass sie sie einhalten. Aber Paulus sagt uns (in Röm 1,18–20), dass sie unterbewusst sehr wohl wissen, dass es einen Gott gibt, dem sie Verantwortung schulden. Solche Menschen sind meist glücklicher und toleranter als die aus den Kategorien 1 und 2, haben aber eine ausgeprägte Selbstgerechtigkeit von der liberalen Sorte, die nicht so leicht auffällt wie die anderen Varianten der Selbstgerechtigkeit. Sie verdienen sich ihr Heil, indem sie sich den anderen überlegen fühlen.
Menschen, die das Gesetz befolgen, sich aber nicht darauf verlassen. Dies sind Christen, die das Evangelium begriffen haben und seine Freiheit ausleben. Sie gehorchen dem Gesetz Gottes aus dankbarer Freude, die aus dem Wissen um ihre Sohnschaft erwächst, und aus Freiheit von der Angst und dem Egoismus, die durch falsche Götzen hervorgerufen worden waren. Sie sind toleranter als die Kategorie 3, sympathischer als die Kategorie 1 und zuversichtlicher als die Kategorie 2. Die meisten Christen schaffen es nicht, die Kategorie 4 auszuleben, und neigen eher dazu, die Welt durch die Brille der Kategorie 1, 2 oder sogar 3 zu sehen und entsprechend geistlich verarmt zu sein.