Wenn Paulus auf sein Leben zurückblickt, erkennt er, dass Gottes souveräne Gnade schon lange vor seiner Bekehrung in seinem Leben aktiv war. Mit dem Satz, dass Gott ihn »von meiner Mutter Leib an ausgesondert ... hat« (Galater 1,15), meint er, dass Gottes Gnade ihn sein ganzes Leben lang auf das vorbereitet hatte, wozu Gott ihn schließlich berief.
Das ist verblüffend. Paulus hatte sich Gott heftig widersetzt (Apg 26, 14), aber Gottes Wille war stärker als seiner und benutzte sein Leben, einschließlich seiner Fehler und Missetaten, um ihn erstens auf seine Bekehrung und zweitens auf sein Amt als Heidenmissionar vorzubereiten (Galater 1,16). Seine profunden Kenntnisse über das Alte Testament, sein Eifer, seine Gelehrsamkeit, die Energie, mit der er sich gegen Gott und seine Gemeinde stellte (Galater 1,13) – all das benutzte Gott, um ihn umzudrehen und zu seinem Werkzeug beim Bau seiner Kirche zu machen.
Die ganze Zeit hatte er Paulus darauf vorbereitet, eben den Glauben, den er so ablehnte, auszubreiten (Galater 1,23).
Und das ist einer der roten Fäden in der Bibel. In 1. Mose 50, 19–20 erklärt Josef seinen Brüdern, dass ihre Weigerung, ihn als den von Gott erwählten Erlöser anzuerkennen – sie hatten ihn um- bringen wollen und schließlich als Sklaven nach Ägypten verkauft (1 Mose 37) – dazu geführt hatte, dass er dort in Ägypten zu genau diesem Erlöser wurde. Und im Neuen Testament stellen die Apostel wiederholt klar, dass die Menschen, die Jesus bekämpften, damit letztlich nur Gottes Plan dienten (Apg 2, 23; 4, 27–28). Jeder Widerstand gegen Gott wird sich am Ende als etwas entpuppen, das seinen Plänen dienen musste. Im 9. Kapitel seiner religiösen Autobiographie Überrascht von Freude erzählt C. S. Lewis von dem Lehrer seiner Jugendzeit Kirkpatrick. Er trug den Spitznamen »The Great Knock« (dt. »der große Schlag«) und war ein leidenschaftlicher Debattierer und Logiker, der Lewis lehrte, wie man einen Fall aufbaut und starke Argumente vorbringt. Gleichzeitig war er Atheist und bemüht, Lewis in seinem Unglauben zu bestärken. Doch als Lewis dann Jahre später Christ wurde, zeigte sich, dass »The Great Knock« ihm das nötige intellektuelle Rüstzeug vermittelt hatte, um einer der größten Verteidiger des Christentums im 20. Jahrhundert zu werden. Das Evangelium gibt uns eine Brille an die Hand, durch die wir unser Leben Revue passieren lassen und sehen können, wie Gott uns – selbst durch unsere Sünden und Niederlagen – darauf vorbereitet hat, Werkzeuge seiner Gnade in der Welt zu werden.
Noch einmal: Wie kam es dazu, dass Gott Paulus, den selbst- bewussten Verfolger der Gemeinde, erwählte, vorbereitete und schließlich berief? Gab es an Paulus etwas, das Gott besonders gefiel? Nein, der Grund war, dass es Gott »wohlgefiel« (Galater 1,15). Gott sah Paulus nicht deswegen gnädig an, weil er diese Gnade wert war, sondern weil er es wollte. So arbeitet Gott immer. Wie Mose den Israeliten in 5. Mose 7, 7–8 erklärt: »Nicht hat euch der Herr angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern –, sondern weil er euch geliebt hat«. Gott liebt uns nicht, weil er uns gebrauchen kann; er liebt uns, weil er uns liebt. Das ist die einzige Art Liebe, auf die in allen Lebenslagen Verlass ist, weil es die einzige Art Liebe ist, die wir nie verlieren können. Das ist Gnade.