Simson weiß nicht, ob Gott sein Gebet erhören wird, als er die beiden Säulen umfasst und sich gegen sie stemmt. Sein Haar war gewachsen, doch wie wir (und nun auch Simson) wissen, funktioniert seine Kraft weder magisch noch ist sie von allein da.
Simson wendet sich ein letztes Mal an Gott: »Ich will sterben mit den Philistern!« (16,30). »Dann neigte er sich mit seiner ganzen Kraft« (SLT) – uns stockt der Atem – »da fiel das Haus auf die Fürsten und auf alles Volk, das darin war, sodass es mehr Tote waren, die er durch seinen Tod tötete, als die er zu seinen Lebzeiten getötet hatte.«
Der wichtigste Moment in Simsons Leben ist sein Tod. In der Art seines Todes beweist er mehr Glauben als jemals sonst in seinem Leben. Sein Tod ist auch der triumphalste Teil seines Lebens, denn schließlich und endlich tut er das, was seiner Mutter vor seiner wundersamen Geburt durch den Engel angekündigt wurde: Er fängt an, Gottes Volk zu erretten (13,5).
Simson als Vorschatten auf Jesus
Simsons Tod unterscheidet sich auf zweierlei bedeutsame Weise vom Tod unseres Herrn. Erstens ist der Grund, weshalb sich Simson im Tempel Dagons befindet, sein eigenes Versagen, unter Gottes Herrschaft und zu Gottes Ehre zu leben. Er selbst hat seinen Untergang durch Ungehorsam herbeigeführt. Jesus lebte dagegen immer zur Ehre seines Vaters und starb aufgrund des Ungehorsams anderer – unseres Ungehorsams. Zweitens erfüllte Simsons Tod die begrenzte Aufgabe, die ihm Gott zugedacht hatte: »Er wird anfangen, Israel zu erretten« (13,5). Der Tod Jesu wiederum bewirkte »ein für alle Mal« Rettung, eine endgültige Errettung (Hebr 10,10; vgl. 1 Petr 3,18).
In vielerlei Hinsicht ist Simsons Ende aber auch eine Abbildung – eine Vorschattung – des Todes Jesu. Diese Fingerzeige helfen uns, tiefer zu begreifen, worum es beim Kreuz geht, und den Einen anzubeten, der für uns starb. Zunächst wurden sowohl Simson als auch Jesus von jemandem verraten, der scheinbar ein Freund ist – Delila und Judas. Beide wurden einer heidnischen Besatzungsmacht ausgeliefert. Beide wurden gefoltert, gefesselt und der Öffentlichkeit zum Spott preisgegeben. Beide wurden aufgefordert, ihre »Kunststücke« vorzuführen (wobei Jesus sich im Gegensatz zu Simson weigerte). Beide starben mit ausgebreiteten Armen.
Außerdem schienen beide von ihren Feinden vollständig bezwungen zu sein, doch sie besiegten den Feind durch ihren Tod – Simson die Philister und Dagon; Jesus den größten Feind, Satan. Als Simson den Tempel über Dagon und dessen Jünger zum Einsturz brachte, verkehrten sich die geistliche Macht und der scheinbare Triumph Dagons in das Gegenteil. Simson löste damit eine bleibende Entfremdung zwischen den beiden Kulturen aus – die Andersartigkeit Israels wurde sichtbar. Für Israel war die Vormacht der Philister nicht länger etwas Unbewusstes und damit auch nicht unentrinnbar.
Jesus hat am Kreuz die Macht Satans zunichtegemacht und ihn entwaffnet (vgl. Kol 2,15). Das Kreuz entmachtete auch die Sünde in unserem Leben – aufgrund von Jesu Tod am Kreuz kann jetzt der Heilige Geist in uns zu leben und in unserem Herzen die Anziehungskraft der Götzen überwinden. In Simson sehen wir den Sieg Jesu über Satan vorgeschattet, den Jesus um den Preis seines Todes erkaufte. Simson tötete durch seinen Tod viele Menschen, und ähnlich war der Tod Jesu nötig, um Satan zu »töten« – die unsichtbare Macht des Götzendienstes und die Macht des Todes selbst.
Simson und Jesus ähneln sich auch darin, dass sie die Rettung im Alleingang vollbrachten. Otniël und Ehud hatten ganz Israel zum Kampf gegen ihre Unterdrücker zusammengetrommelt (3,10 und 27), Debora und Barak zogen mit zwei Stämmen in den Krieg (4,10), Gideon blieben immerhin dreihundert. Zur Zeit Simsons hatte die Sünde das Volk Gottes aber bereits so zerrüttet, dass keiner (einschließlich Simson während des größten Teils seines Lebens) bereit war, sich auf einen Befreiungskampf einzulassen (15,9–13). Wie Jesus musste Simson seine Befreiungstat allein vollbringen – unerwartet und ungebeten.
An Simson sehen wir das Muster der »siegreichen Niederlage«, und zwar deutlicher als bei jedem anderen Richter. Abgelehnt, geschlagen, gefesselt, ganz allein und schließlich unter einer Lawine von Feinden sterbend, triumphiert Simson. Gott befreit sein Volk durch die siegreiche Niederlage eines einzelnen Retters.
Schwach werden, um stark zu werden
Das ist das Evangelium! Jesus wurde schwach, um stark zu werden. Es gibt aber noch einen letzten wichtigen Unterschied zwischen Simson und Christus. Mit Simsons Begräbnis war seine Herrschaft vorbei (16,31). Seine Geschichte war zu Ende. Mit Jesu Begräbnis fing die Geschichte aber in vielerlei Hinsicht erst an. Er herrscht über sein Grab hinaus, nicht nur zuvor. Der Eine, der schwach wurde, um endgültig zu retten, wird in Ewigkeit mit Macht und Stärke herrschen.
Wer Christ wird und Christ ist, folgt dem gleichen Muster – schwach zu werden, um stark zu werden. Nur wer sich eingesteht, dass er ungerecht ist, empfängt die Gerechtigkeit Christi. Nur wer weiß, dass er sein Leben und seine Kraft einzig aus Gnade hat, lebt nicht im Griff der Furcht, der Langeweile und der Mutlosigkeit. Nur wer seine eigene Schwachheit kennt, kann auch die innere Stärke kennen, die Gott schenkt. Diese Stärke hilft uns, den Fallen aus dem Weg zu gehen, die Simsons Verhängnis waren: Stolz, Begierde, Zorn, Rachedurst und Selbstzufriedenheit.