In weiten Teilen der heutigen christlichen Kirche sind die Psalmen ein vergessener Schatz: Viele Gemeinden gleichen einem verarmten Haus, auf dessen Dachboden unermessliche Reichtümer liegen – aus den Augen verloren, unbeachtet, von den Motten zerfressen und verstaubt. Lasst uns die Psalmen wieder hervorholen und in dem Wunder schwelgen, das in ihnen steckt – in einer Fülle und einem Reichtum der Beziehung zu Gott, an die so viele von uns halb verhungerten Christen nicht einmal im Traum denken.
Die Psalmen in der Bibel sind dafür gedacht, dass wir beten lernen. Sie geben uns Einblick, wie Jesus in seinem Leben als Mensch beten lernte. Mit ihnen soll auch das Volk Jesu beten, denn durch die Psalmen leitet der Geist Jesu uns im Gebet und im Lobpreis an.
Die Psalmen stehen in der Bibel, damit das ganze Volk Jesu lernt, alle Psalmen zu jeder Zeit zu beten. Was meine ich damit? Betrachten wir das Gegenteil: Jemand erzählte mir begeistert von einem Pastor, der sagte, er lese gewöhnlich so lange durch die Psalmen, bis ihn ein Vers anspreche. Dort halte er so lange inne, bis dieses Angesprochensein verblasst. Dann lese er weiter. Das hörte sich wunderbar an – und trotzdem könnte man kaum einen verkehrteren Ansatz finden, um die Psalmen zu lesen! Wenn ich diesen Ansatz übernehme, setze ich mich ans Steuer. Ich entscheide, was mich anspricht und welche Verse ich behandle. Dabei besteht die Gefahr, dass in den Psalmen (oder Versen), die ich auswähle, nur meine eigenen Sehnsüchte und Gedanken widerhallen. Sie verstärken meine Empfindungen – welcher Art auch immer – und hinterfragen niemals mein Denken oder meine Ansichten.
Die Absicht der Psalmen ist jedoch eine ganz andere. In den Psalmen lernen wir, gemeinschaftlich zu beten – zusammen mit Jesu Kirche aller Zeitalter. Wir lernen, christozentrisch zu beten: Wir lassen uns in unseren Gebeten von Jesus Christus leiten, durch dessen Geist wir die Psalmen beten. Wir lernen, einfühlsam zu beten, indem wir uns mit der größeren Gemeinde identifizieren und uns weniger auf unsere individualistischen (und oft um uns selbst kreisenden) Anliegen konzentrieren. Das ist für viele von uns ein Paradigmenwechsel – besonders für jene, die in individualistischen westlichen Kulturen aufgewachsen sind, in denen das christliche Leben als eine Angelegenheit zwischen Gott und mir verstanden wird, wobei die Betonung auf »mir« liegt. Die Psalmen singen und beten zu lernen, ist eine herausfordernde Angelegenheit und eine aufrüttelnde Erfahrung. Dennoch ist es eine Übung, die uns in das Bild des Gottessohnes, des Herrn Jesus, verwandelt, dessen Gebetsleben von diesen herrlichen Dichtungen geprägt war.