R.C. Sproul

Ist Theologie eine Wissenschaft?

Ist Theologie eine Wissenschaft?

Theologie ist eine Wissenschaft. Viele widersprechen dem vehement und behaupten, dass zwischen Wissenschaft und Theologie eine große Kluft besteht. Wissenschaft sei das, was wir durch empirische Untersuchungen und Nachforschungen erfahren, während Theologie den religiösen Gefühlen von Menschen entspringt. In der Vergangenheit galt die Systematische Theologie jedoch immer schon als Wissenschaft.

Theologie und Wissenschaft

»Wissenschaft« beinhaltet bereits das Wort »Wissen«. Christen glauben, dass sie durch Gottes göttliche Offenbarung wirkliches Wissen über Gott haben. Die Theologie dürfte nicht als Wissenschaft bezeichnet werden, wenn man keine Erkenntnis über Gott gewinnen könnte. Das Streben nach Wissen ist immerhin das Wesen der Wissenschaft. Die Wissenschaft der Biologie bemüht sich folglich, Wissen über lebende Dinge zu erlangen. Die Wissenschaft der Physik strebt danach, Wissen über physikalische Dinge zu erlangen. Und die Wissenschaft der Theologie möchte ein kohärentes, konsistentes Wissen über Gott gewinnen.

»Die Wissenschaft der Theologie möchte ein kohärentes, konsistentes Wissen über Gott gewinnen.«
Alle Wissenschaften verwenden Paradigmen oder Modelle, die sich im Laufe der Zeit ändern oder verschieben. Wesentliche Änderungen der wissenschaftlichen Theorie einer bestimmten Disziplin bezeichnet man daher als Paradigmenwechsel. Wenn man ein Physiklehrbuch aus den 1950er-Jahren in die Hand nimmt, wird man feststellen, dass einige der damals aufgestellten Theorien inzwischen überholt sind. Niemand nimmt sie mehr ernst, weil die physikalischen Theorien sich inzwischen erheblich verändert haben. Das Gleiche geschah, als die newtonsche Physik frühere Physiktheorien ersetzte. Dann kam Albert Einstein und löste eine neue Revolution aus, und wieder mussten wir unser Verständnis der Physik anpassen. Ein Paradigmenwechsel findet statt, wenn eine neue Theorie eine alte ablöst.

Was in den Naturwissenschaften in der Regel zu Paradigmenwechseln führt, ist das Auftreten von Anomalien. Eine Anomalie ist ein Detail, das nicht in eine bestimmte Theorie passt – etwas, für das die Theorie keine Erklärung hat. Wenn man versucht, tausende Details in ein kohärentes Bild (wie bei einem Puzzle mit 10.000 Teilen) zusammenzufügen, und es gelingt, dass alle Teile bis auf eines passen, dann betrachten die meisten Wissenschaftler dies als ein gutes Paradigma. Die zusammengesetzte Struktur, die auf 9.999 Arten zusammenpasst, ergibt Sinn und erklärt fast alle untersuchten Daten. Wenn es jedoch zu viele Anomalien gibt und eine erhebliche Datenmenge nicht in die Struktur eingeordnet werden kann, bricht die Theorie zusammen.

Wenn Anomalien zu zahlreich oder zu gewichtig werden, ist der Wissenschaftler gezwungen, neu nachzudenken, die Annahmen früherer Generationen infrage zu stellen und ein neues Modell zu entwickeln, das den neuen Entdeckungen oder Informationen gerecht wird. Das ist einer der Gründe, warum wir in den Wissenschaften ständige Veränderungen und bedeutende Fortschritte erleben.

»Theologen arbeiten seit zweitausend Jahren mit denselben Informationen, weshalb ein dramatischer Paradigmenwechsel unwahrscheinlich ist.«
 Wenn es um das Verständnis der Bibel geht, ist der Ansatz ein anderer. Theologische Gelehrte arbeiten seit zweitausend Jahren mit denselben Informationen, weshalb ein dramatischer Paradigmenwechsel unwahrscheinlich ist. Natürlich gewinnen wir neue Erkenntnisse über kleine Details, z.B. über die Nuancen eines griechischen oder hebräischen Wortes, die früheren Generationen nicht zur Verfügung standen. Doch die meisten Veränderungen in der heutigen Theologie werden nicht durch neue archäologische Entdeckungen oder das Studium alter Sprachen ausgelöst. Sie entstehen überwiegend durch neue Philosophien, die in der säkularen Welt auftauchen, und durch Versuche, eine Synthese oder Integration zwischen diesen modernen Philosophien und der in der Heiligen Schrift offenbarten alten Religion zu erreichen.

Aus diesem Grund bin ich eher ein konservativer Theologe. Ich bezweifle, dass ich jemals auf eine Erkenntnis stoßen werde, die nicht bereits von größeren Denkern als mir detailliert ausgearbeitet wurde. Wenn es um Theologie geht, bin ich eigentlich nicht an Neuem interessiert. Wäre ich Physiker, würde ich ständig versuchen, neue Theorien aufzustellen, um lästige Anomalien zu beseitigen, aber in der Wissenschaft der Theologie verzichte ich bewusst darauf.

Leider suchen viele Theologen nach Neuem. In der akademischen Welt herrscht der ständige Druck, etwas Neues und Kreatives hervorzubringen. Ich erinnere mich an einen Mann, der zu beweisen versuchte, dass Jesus von Nazareth nie existiert hat, sondern eine mythologische Schöpfung von Mitgliedern eines Fruchtbarkeitskultes war, die unter dem Einfluss psychoaktiver Pilze standen. Seine These war sicherlich neu, doch sie war ebenso absurd wie neu.

Natürlich ist diese Faszination für Neues nicht nur auf unsere Zeit beschränkt. Der Apostel Paulus begegnete ihr unter den Philosophen auf dem Areopag in Athen (vgl. Apg 17,16–34). Wir wollen unser Wissen erweitern und unser Verständnis vertiefen. Wir müssen aber aufpassen, dass wir nicht der Versuchung erliegen, uns etwas Neues einfallen zu lassen, nur weil es neu ist.

Die Quellen der Systematischen Theologie

Die wichtigste Quelle für den Systematischen Theologen ist die Bibel. In der Tat ist sie die Hauptquelle für alle drei theologischen Disziplinen: Biblische Theologie, Historische Theologie und Systematische Theologie.

»Es ist gefährlich, sich nur auf einen schmalen Ausschnitt der Bibel zu konzentrieren, ohne gleichzeitig den gesamten Rahmen der biblischen Offenbarung zu betrachten.«
 Die Aufgabe der Biblischen Theologie besteht darin, die Daten der Heiligen Schrift in ihrer zeitlichen Entfaltung zu betrachten (was wiederum dem Systematischen Theologen als Quelle dient). Der Biblische Theologe geht dafür die Heilige Schrift durch und untersucht die fortschreitende Entwicklung von Begriffen, Konzepten und Themen sowohl im Alten als auch im Neuen Testament, um zu sehen, wie sie im Laufe der Offenbarungsgeschichte verwendet und verstanden werden. Ein Problem in den heutigen theologischen Hochschulen ist eine Methode der Biblischen Theologie, die als »Atomismus« bezeichnet wird, bei der jedes »Atom« der Schrift für sich allein steht. Ein Gelehrter kann sich darauf beschränken, nur die Heilslehre des Paulus im Galaterbrief zu studieren, während ein anderer sich ausschließlich auf die Heilslehre des Paulus im Epheserbrief konzentriert. Das Ergebnis ist, dass jeder zu einer anderen Sicht des Heils kommt – eine aus dem Galaterbrief und eine andere aus dem Epheserbrief –, aber es wird nicht untersucht, wie die beiden Ansichten miteinander harmonieren. Man geht davon aus, dass Paulus nicht von Gott inspiriert war, als er den Galater- und den Epheserbrief schrieb, sodass es keine übergreifende Einheit, keine Kohärenz im Wort Gottes gibt. In den letzten Jahren konnte man oft von Theologen hören, dass es nicht nur theologische Unterschiede zwischen dem »frühen« und dem »späten« Paulus gibt, sondern auch so viele unterschiedliche Theologien in der Bibel, wie es Autoren gibt. Es gibt die Theologie des Petrus, die Theologie des Johannes, die Theologie des Paulus und die Theologie des Lukas, und sie passen alle nicht zusammen. Dadurch verliert man den Blick auf die Kohärenz der Schrift. Es ist gefährlich, sich nur auf einen schmalen Ausschnitt der Bibel zu konzentrieren, ohne gleichzeitig den gesamten Rahmen der biblischen Offenbarung zu betrachten.

Die zweite Disziplin und eine weitere Quelle für die Systematische Theologie ist die Historische Theologie. Historische Theologen untersuchen, wie sich die Lehre historisch entwickelt hat, vor allem an Krisenpunkten – wenn Irrlehren auftauchten und die Kirche darauf reagierte. Theologen wundern sich stets, wenn in Kirchen und theologischen Ausbildungsstätten sogenannte brandneue Kontroversen aufkommen, denn die Kirche hat jede dieser scheinbar neuen theologischen Auseinandersetzungen in der Vergangenheit immer wieder erlebt. Christen sind damals auf Konzilien zusammengekommen, um Streitigkeiten beizulegen, wie etwa auf dem Konzil von Nicäa (325 n. Chr.) und dem Konzil von Chalcedon (451 n. Chr.). Die Erforschung dieser Ereignisse ist Aufgabe der Historischen Theologen.

Die dritte Disziplin ist die Systematische Theologie. Die Aufgabe des Systematikers besteht einerseits darin, die Quellen der biblischen Daten zu untersuchen. Andererseits setzt er sich auch mit den Quellen der historischen Entwicklungen auseinander, die sich aus Kontroversen und Kirchenkonzilien und den daraus resultierenden Glaubensbekenntnissen ergeben. Zuletzt erforscht er auch die Erkenntnisse bedeutender Gläubiger, mit denen die Kirche im Laufe der Jahrhunderte gesegnet wurde. Das Neue Testament sagt uns, dass Gott der Kirche in seiner Gnade Lehrer geschenkt hat (vgl. Eph 4,11–12). Nicht alle sind so scharfsinnig wie Augustinus, Martin Luther, John Calvin oder Jonathan Edwards. Solche Männer haben keine apostolische Autorität, aber der schiere Umfang ihrer Forschung und die Tiefe ihres Verständnisses kommen der Kirche in jedem Zeitalter zugute. Thomas von Aquin wurde von der römisch-katholischen Kirche »doctor angelicus« oder »engelsgleicher Doktor« genannt. Römisch-katholische Gläubige glauben nicht, dass er unfehlbar war, aber kein römisch-katholischer Historiker oder Theologe ignoriert seine Texte. Der Systematiker studiert nicht nur die Bibel, die Glaubensbekenntnisse und die Bekenntnisse der Kirche, sondern auch die Einsichten der großen Lehrer, die Gott im Laufe der Geschichte gegeben hat. Er betrachtet alle Daten – biblische, historische und systematische – und fügt sie zusammen.

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