Dane Ortlund

Im Licht wandeln

Im Licht wandeln

Aus biblischer Sicht ist ein von anderen isolierter Einzel-Christ eine widersinnige Vorstellung. Die Schrift nennt die Gläubigen den Leib Christi. Vielleicht ist dir diese Metapher wohlbekannt, aber bedenke, was sie bedeutet. Wir leben unser Leben in Christus so, dass wir lebendig und organisch mit allen anderen Gläubigen verknüpft sind. Sind wir in Christus, so sind wir von anderen Gläubigen ebenso wenig losgelöst, wie das Muskelgewebe von den Bändern in einem gesunden Körper losgelöst ist.

Wenn du einem anderen Christen in der Stadt begegnest, dann trifft die Hand eines Körpers auf einen Fuß desselben Körpers, wobei beide durch den gleichen Kopf gelenkt werden. Sie mögen unterschiedlichen Geschlechts sein, aus verschiedenen Volksgruppen stammen, völlig gegensätzliche Persönlichkeiten haben und es können viele Jahre Altersunterschied zwischen ihnen liegen. Trotzdem sind sie wesentlich enger miteinander verbunden als zwei Geschwister derselben Familie, mit gleichem ethnischen Hintergrund und gleicher DNA, von denen nur einer Christ ist und der andere nicht.

»Aus biblischer Sicht ist ein von anderen isolierter Einzel-Christ eine widersinnige Vorstellung. «

Die Apostel sprechen auch deshalb von Christen als Leib Christi, weil sie dadurch zum Ausdruck bringen wollen: Ebenso wie ein Körper wächst und erwachsen wird, so sollen auch Christen wachsen und erwachsen werden. »Lasst uns … wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus. Von ihm aus gestaltet der ganze Leib sein Wachstum, sodass er sich selbst aufbaut in der Liebe – der Leib, der zusammengefügt und gefestigt ist durch jede Verbindung, die mit der Kraft nährt, die jedem Glied zugemessen ist« (Eph 4,15–16).

Die Bibel hat eine Menge darüber zu sagen, wie wir als Christen miteinander umgehen sollen, wenn wir wachsen möchten. Ich möchte mich hier auf eine besonders wichtige Lehre des Neuen Testaments konzentrieren – auf die wichtigste gemeinschaftliche Realität, die unser Wachstum in Christus benötigt: Ehrlichkeit.

Im Licht wandeln

Wenn ich dich dazu aufrufen würde, »im Licht zu wandeln« – was wäre deine instinktive Vermutung, was damit gemeint ist? Würdest du denken, ich fordere dich zu einem moralisch einwandfreien Leben auf ? Das wäre eine einleuchtende Überlegung. Wenn ich die Wendung »im Licht wandeln« jedoch so wie der Apostel Johannes gebrauchte, dann wäre damit etwas anderes gemeint. Wir lesen in 1. Johannes 1,7: »Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde.«

Fordert dieser Text also zu moralischer Reinheit auf? Wir finden Gebote dazu zweifellos in der Bibel: »damit ihr lauter und unanstößig seid« (Phil 1,10); »Halte dich selber rein!« (1Tim 5,22); »besonnen zu sein, keusch« (Tit 2,5 SLT). Auch der Apostel Johannes wünscht sich das offensichtlich für seine Leser: »Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt« (1Joh 2,1). Auf den ersten Blick kann es auch so aussehen, als ginge es Johannes genau darum, wenn er in 1. Johannes 1,7 über den Wandel im Licht spricht. Immerhin sagt er: »Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist« – das heißt, wie Gott im Licht ist. Gott ist moralisch rein, also sind wir doch zur selben Reinheit aufgerufen, oder?

»Offenkundig bedeutet Wandeln im Licht, unsere Sündhaftigkeit zu bekennen, und Wandeln in der Finsternis, unsere Sündhaftigkeit zu verbergen. «

Dieser Text zielt jedoch auf etwas anderes. Johannes hat etwas weitaus Befreienderes zu sagen. Im Licht zu wandeln bedeutet in diesem Text Ehrlichkeit gegenüber anderen Christen. Sieh dir an, was in den umliegenden Versen betont wird: »Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst« (1,8). Dann spricht Johannes vom Bekennen unserer Sünden – davon, unsere Verfehlungen ehrlich einzugestehen: »Wenn wir aber unsre Sünden bekennen …« (1,9). Und in Vers 10 kehrt er wieder zu dem Gedanken von Vers 8 zurück: »Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner« (1,10).

Sünde im Licht offenlegen

Offenkundig bedeutet Wandeln im Licht, unsere Sündhaftigkeit zu bekennen, und Wandeln in der Finsternis, unsere Sündhaftigkeit zu verbergen. Im Licht wandeln meint in diesem Text nicht in erster Linie, Sünde zu vermeiden, sondern sie zuzugeben. Tatsächlich endet Vers 7 sogar mit der Zusicherung des reinigenden Blutes Christi – ein unverkennbarer Hinweis darauf, dass sich das Wandeln im Licht im ersten Teil des Verses auf das Bekennen unserer Sünden bezieht.

Das Ende des Versteckspiels

Was ich sagen möchte: Du begrenzt dein Wachstum, wenn du dich in deinem Leben nicht beständig der schmerzhaften, demütigenden, befreienden und wohltuenden Aufgabe stellst, dein Versagen vor einem anderen Christen aus der Finsternis des Verbergens zu holen, es einzugestehen und damit ans Licht zu bringen. In der Finsternis wuchern deine Sünden weiter und werden mächtiger. Im Licht verwelken sie und sterben ab. Im Licht zu wandeln bedeutet mit anderen Worten Ehrlichkeit gegenüber Gott und anderen.

Der Klassiker über den Wandel im Licht ist das Buch Gemeinsames Leben von Dietrich Bonhoeffer. Er überschreibt dort ein Kapitel mit »Beichte und Abendmahl«, denn es ist sein Anliegen, die notwendige Verbindung zwischen diesen beiden horizontalen Realitäten aufzuzeigen. Er beginnt jenes Kapitel mit den Worten:

»Wer mit seinem Bösen allein bleibt, der bleibt ganz allein. Es kann sein, dass Christen trotz gemeinsamer Andacht, gemeinsamen Gebetes, trotz aller Gemeinschaft im Dienst allein gelassen bleiben, dass der letzte Durchbruch zur Gemeinschaft nicht erfolgt, weil sie zwar als Gläubige, als Fromme Gemeinschaft miteinander haben, aber nicht als die Unfrommen, als die Sünder. Die fromme Gemeinschaft erlaubt es ja keinem, Sünder zu sein. Darum muss jeder seine Sünde vor sich selbst und vor der Gemeinschaft verbergen. Wir dürfen nicht Sünder sein. Unausdenkbar das Entsetzen vieler Christen, wenn auf einmal ein wirklicher Sünder unter die Frommen geraten wäre. Darum bleiben wir mit unserer Sünde allein, in der Lüge und der Heuchelei; denn wir sind nun einmal Sünder.«[1]

Wenn wir dem Stolz und der Angst nachgeben und unsere Sünden verbergen, bleibt unser Wachstum in Christus auf der Stelle stehen. Wir wachsen, wenn wir eingestehen, dass wir echte Sünder sind, nicht nur theoretische Sünder. Natürlich gestehen alle Christen, dass sie grundsätzlich Sünder sind. Viel seltener ist hingegen der Christ, der einem anderen offen bekennt, wie genau er ein Sünder ist. Wo solche Ehrlichkeit aber vorhanden ist, blüht das Leben auf.

Fußnoten

[1] Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, Mit einem Nachwort von Eberhard Bethge, München: Chr. Kaiser Verlag, 1980, S. 95.

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