Michael Reeves

Die heutige Kultur der Angst

Die heutige Kultur der Angst

Wenn wir erkennen, in welchem Zustand sich unsere Gesellschaft befindet und wie ängstlich unsere Kultur geworden ist, können wir besser verstehen, warum wir ein Problem mit der Angst haben – und weshalb die Gottesfurcht die beste Medizin für diese Angst ist.

Heutzutage – so scheint es – spricht jeder von einer Kultur der Angst. Von Twitter bis zum Fernsehen machen wir uns Sorgen über den globalen Terrorismus, extreme Wetterbedingungen, Pandemien und politische Unruhen. In politischen Kampagnen und Wahlkämpfen setzen Politiker regelmäßig Angstrhetorik ein, weil sie wissen, dass Angst das Abstimmungsverhalten beeinflusst. In unserer digitalisierten Welt werden wir durch die Geschwindigkeit, mit der sich Informationen und Nachrichten verbreiten, mit mehr Gründen zur Sorge überflutet als je zuvor. Ängste, über die wir früher nie gesprochen hätten, durchqueren die Welt in Sekundenschnelle und werden global gebündelt.

Unser privater Alltag ist gefüllt mit weiteren Angstquellen – eine davon ist unsere Ernährung: Wer auf der Speisekarte die Vollfettvariante wählt, steuert auf einen Herzinfarkt zu. Dabei werden wir regelmäßig mit der neuesten Entdeckung konfrontiert, dass die kalorienarme Alternative eigentlich krebserregend oder anderweitig schädlich ist. So beginnt die leise Angst schon beim Frühstück. Oder denken wir an die Paranoia, die immer mehr Eltern heute entwickeln. Die berechtigte, aber meist übertriebene Angst vor dem Kidnapper, der im Internet oder vor jeder Schule lauert, hat dazu beigetragen, dass »Helikopter-Eltern« ständig über ihren Kindern schweben und sie zu ihrem Schutz umzäunen. So ist es nicht verwunderlich, dass neuerdings von Universitäten erwartet wird, bisher gänzlich unbekannte »sichere Räume« zum Schutz der Studenten einzurichten. Kinder sind so behütet aufgewachsen, dass sie kaum noch mit gegenteiligen Standpunkten oder Kritik umgehen können. Dies ist nur ein Anzeichen dafür, dass sie als empfindlicher und verletzlicher gelten als Studenten noch vor einer Generation.

»Geschützt wie nie zuvor, sind wir nervös und panisch wie nie zuvor.«

Es wäre jedoch falsch, mit dem Finger nur auf die jüngere Generation zu zeigen. Als gesamte Gesellschaft werden wir zunehmend ängstlicher und unsicherer. Jeder, der im Management tätig ist, weiß um die schwindelerregende Ausbreitung bürokratischer Vorschriften rund um Gesundheit und Sicherheit. Dennoch fühlen wir uns dadurch nicht sicherer und überprüfen unsere Schlösser nur noch genauer. Die Sicherheit, nach der wir uns sehnen, entzieht sich uns und wir fühlen uns verletzlich – wie Opfer, die der Willkür von allem und jedem ausgeliefert sind. Dabei ist das Ganze völlig paradox, denn wir leben sicherer als je zuvor. Von Sicherheitsgurten und Airbags in unseren Autos bis hin zur Entfernung von Bleifarbe und Asbest aus unseren Häusern ist unsere Sicherheit besser gewährleistet, als es sich unsere Vorfahren je hätten vorstellen können. Wir haben Antibiotika, um uns vor Infektionen zu schützen, die in anderen Jahrhunderten nur allzu leicht tödlich gewesen wären. Doch anstatt uns darüber zu freuen, machen wir uns Sorgen, dass wir immun werden und so auf eine post-antibiotische Gesundheitsapokalypse zusteuern könnten. Obwohl wir wohlhabender sind und mehr Sicherheit haben als fast jede andere Gesellschaft in der Geschichte, ist Sicherheit der Heilige Gral unserer Kultur geworden. Und wie der Heilige Gral ist auch Sicherheit etwas, das wir nie ganz erreichen können. Geschützt wie nie zuvor, sind wir nervös und panisch wie nie zuvor.

Wie kann das sein? Wenn wir als Gesellschaft doch so gut gepolstert und abgefedert sind, warum beherrscht uns dann heute die Kultur der Angst? Professor Frank Furedi schreibt: »Warum die Amerikaner mehr Angst haben, obgleich sie viel weniger zu befürchten haben als in früheren Zeiten, ist eine Frage, die viele Wissenschaftler vor ein Rätsel stellt. Ein Argument, das zur Erklärung dieses ›Paradoxons einer sicheren Gesellschaft‹ herangezogen wird, ist, dass der Wohlstand die Menschen dazu ermutigt, risiko- und verlustscheuer zu werden.«

Da könnte etwas dran sein. Wir sind sicherlich frei, mehr zu wollen, haben die Möglichkeit, mehr zu besitzen, und fühlen uns oft berechtigt, mehr zu genießen. Und je mehr wir etwas wollen, desto mehr fürchten wir dessen Verlust. Wenn unsere Kultur hedonistisch, unsere Religion therapeutisch und unser Lebensziel persönliches Wohlbefinden ist, wird die Angst uns permanent Kopfzerbrechen bereiten. Furedi ist allerdings der Meinung, dass das »Paradoxon einer sicheren Gesellschaft« tatsächlich tiefere Wurzeln hat. Er behauptet, dass die moralische Verwirrung in der Gesellschaft zu einer Unfähigkeit geführt hat, mit der Angst umzugehen, zu einem Anstieg der Angst und damit zu einer wachsenden Zahl von Schutzzäunen, die um uns herum errichtet werden.

»Wenn unsere Kultur hedonistisch, unsere Religion therapeutisch und unser Lebensziel persönliches Wohlbefinden ist, wird die Angst uns permanent Kopfzerbrechen bereiten.«

Furedis Argument ist besonders interessant, wenn man bedenkt, dass er ein glühender Humanist und kein Christ ist. Es ist aufschlussreich und sicher richtig von ihm, nach den tiefen Wurzeln unserer Kultur der Angst zu suchen. Ich behaupte jedoch, dass er nicht tief genug gegraben hat. Furedi argumentiert, dass die moralische Verwirrung unsere Gesellschaft ängstlich gemacht habe. Die moralische Verwirrung selbst ist jedoch nur die Folge eines früheren Verlustes: dem Verlust der Gottesfurcht. Es ist Gott, der die Logik und die Matrix der Moral liefert: Wenn er nicht mehr gefürchtet wird, folgt daraus moralische Verwirrung. Diese ist aber nicht die Wurzel unserer Angst. Vielmehr sind beide – unsere heutige moralische Verwirrung und unser allgemeiner Zustand erhöhter Angst – die Folge eines kulturellen Verlustes von Gott als dem eigentlichen Objekt menschlicher Furcht. Diese Furcht vor Gott war eine glückliche und gesunde Furcht, die unsere anderen Ängste formte und kontrollierte und so unsere Angst im Zaum hielt.

»Die Furcht vor Gott ist eine glückliche und gesunde Furcht, die unsere anderen Ängste formt und kontrolliert und so unsere Angst im Zaum hält.«

Da die Gesellschaft Gott als das eigentliche Objekt gesunder Furcht verloren hat, wird unsere Kultur zwangsläufig immer neurotischer, immer ängstlicher vor dem Unbekannten – ja, immer ängstlicher vor allem und jedem. Ohne die Fürsorge eines gütigen und väterlichen Gottes bewegen wir uns angesichts der veränderten Moral und Realität wie auf unsicherem Treibsand. Weil wir Gott aus unserer Kultur verdrängt haben, nahmen andere Sorgen – von der eigenen Gesundheit bis zur Gesundheit des Planeten – in unseren Köpfen eine göttliche Vorrangstellung ein. Gute Dinge sind zu grausamen und erbarmungslosen Götzen geworden – und so fühlen wir uns hilfsbedürftig und zerbrechlich. Die Gesellschaft hat ihren sicheren Anker verloren und wird dafür mit freischwebenden Ängsten überflutet. Denn während Furcht eine Reaktion auf etwas Bestimmtes ist, ist Angst eher ein unspezifischer Zustand, der in der Luft liegt. Angst kann sich daher mit allem Möglichen verbinden und sich augenblicklich und mühelos wandeln: In der einen Minute machen wir uns Sorgen über Messerkriminalität, in der nächsten über den Klimawandel.

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