Hauptauslöser der Reformation im 16. Jahrhundert war die Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben, aber im Hintergrund schlummerte noch ein anderes wichtiges Thema: die Frage nach der Autorität. Hinsichtlich der Vorrangstellung und Autorität der Heiligen Schrift war die Autorenschaft der Bibel für die Reformatoren von grundlegender Bedeutung.
Obwohl die Bibel von Menschen niedergeschrieben wurde, waren die Reformatoren der Auffassung, dass der eigentliche Autor der Bibel nicht Paulus, Lukas, Jeremia oder Mose war, sondern Gott selbst. Paulus stellt in 2. Timotheus 3,16 eine erstaunliche Behauptung auf, wenn er sagt, dass alle diese Schriften, alle graphē, auf göttlicher Inspiration beruhen.
Gottgehaucht
Das Wort, das im griechischen Grundtext »ausgehaucht« oder »eingehaucht« bedeutet, wird in den meisten Übersetzungen mit »von Gott eingegeben« übersetzt. Angesichts der langen Geschichte der Inspirationslehre müssen wir zwischen der Bedeutung in 2. Timotheus 3,16 und der Art und Weise, wie die Inspiration im Laufe der Kirchengeschichte verstanden wurde, unterscheiden.
B.B. Warfield wies einmal darauf hin, dass es bei 2. Timotheus 3,16 weniger darum geht, wie Gott seine Informationen (durch menschliche Schreiber) übermittelt hat, sondern wer die Quelle dieser Informationen ist. Wörtlich schreibt Paulus hier, dass die ganze Schrift theopneustos, d.h. »von Gott eingegeben« ist, was eher damit zu tun hat, dass Gott etwas aushaucht, als damit, wohin Gott etwas einhaucht. Paulus’ Worte haben Kraft, weil die ganze Schrift gottgehaucht ist. Da Ausatmen Exspiration und Einatmen Inspiration ist, müsste man diesen Satz eigentlich so übersetzen, dass die ganze Schrift durch ein »Ausatmen Gottes« und nicht durch »Inspiration« entstanden ist. Wenn Paulus darauf besteht, dass die ganze Schrift gottgehaucht ist, sagt er damit, dass ihr Ursprung Gott ist. Gott ist die Quelle dieser Schriften.
Wenn wir von Inspiration als Konzept sprechen, meinen wir das Wirken des Heiligen Geistes, der zu verschiedenen Zeiten auf die Menschen kam und sie mit seiner Kraft salbte, sodass sie inspiriert wurden, das wahre Wort Gottes aufzuschreiben. Dieses Wirken wird zwar in der Schrift nirgends näher beschrieben, aber die Bibel bezeugt klar, dass sie nicht menschlichen Ursprungs ist. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Lehre von der Inspiration erläutert, wie Gott über die Abfassung der Heiligen Schrift wachte.
Orthodoxe Christen wurden von einigen Theologen beschuldigt, eine mechanische Sicht der Inspiration zu lehren, die manchmal auch als »Diktat-Theorie« bezeichnet wird. Dabei sollen die Autoren der Heiligen Schrift einfach Worte von Gott diktiert bekommen haben – so wie ein Sekretär einen mündlich diktierten Brief Wort für Wort niederschreibt. Die Kirche hat sich im Lauf der Geschichte von dieser allzu vereinfachenden Inspirationstheorie distanziert, obwohl es Zeiten gab, in denen einige Geistliche diese Sichtweise übernahmen. So sagte Johannes Calvin beispielsweise, die Propheten und die Apostel hätten in gewissem Sinne Gott als amanuenses (Sekretäre) gedient. Als Überbringer der Worte Gottes waren sie Amanuenses, aber das erklärt nicht die Art und Weise der Inspiration.
Wir wissen nicht, wie Gott über die Aufzeichnung der Heiligen Schrift gewacht hat. Es ist jedoch entscheidend für die Kirche heute, dass das, was wir als Heilige Schrift vorliegen haben, unter der Aufsicht Gottes geschrieben wurde. Die Autoren haben nicht aus eigener Kraft geschrieben – obwohl ihre Texte die Persönlichkeit, den Wortschatz und die Anliegen der menschlichen Schreiber widerspiegeln. Hätten sie aus eigener Kraft geschrieben, würden wir erwarten, viele Fehler zu finden.
Jedes einzelne Wort
Überdies hat die Kirche von jeher geglaubt, dass die Bibel verbal inspiriert ist. Mit anderen Worten: Die Inspiration betrifft nicht nur allgemein die von den menschlichen Autoren übermittelten Informationen, sondern die einzelnen Wörter und Sätze der Schrift. Das ist einer der Gründe, warum die Kirche eifrig bemüht war, die Originalmanuskripte der Bibel so gut wie möglich zu rekonstruieren und die Bedeutung der alten hebräischen und griechischen Begriffe sorgfältig zu studieren. Jedes Wort besitzt göttliche Autorität.
Als Jesus bei seiner Versuchung in der Wüste mit Satan sprach, diskutierten sie über Zitate aus der Heiligen Schrift. Jesus konnte den Teufel oder die Pharisäer stets mit einem einzigen Wort widerlegen. Er sagte auch, weder der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz werde vergehen, bis alles erfüllt ist (vgl. Mt 5,18). Jesus meinte damit, dass es im Gesetz Gottes kein überflüssiges oder verhandelbares Wort gibt. Jedes einzelne Wort trägt das Gewicht der verbindlichen Autorität seines Urhebers.
In unserer Zeit, in der eine Lawine an Bibelkritik losgetreten wurde, gab es Versuche, dem Konzept der Inspiration zu widersprechen. Der deutsche Gelehrte Rudolf Bultmann (1884–1976) lehnte die Vorstellung vom göttlichen Ursprung der Schrift pauschal ab. Neoorthodoxe Theologen sind bestrebt, die kirchliche Lehre wiederherzustellen und der Bibel ein höheres Ansehen zu verschaffen, als sie im Liberalismus des 19. Jahrhunderts besaß. Allerdings lehnen sie die Verbalinspiration und propositionale Offenbarung ab. So sagte Karl Barth (1886–1968) beispielsweise, Gott offenbare sich durch Ereignisse und nicht durch Aussagen. Die Bibel ist jedoch nicht nur eine Aufzeichnung von Ereignissen, in der uns gesagt wird, was geschehen ist, und die uns dann überlässt, deren Bedeutung zu interpretieren. Vielmehr gibt sie uns sowohl einen Bericht von dem, was geschehen ist, als auch die autoritative, apostolische und prophetische Auslegung dieser Ereignisse.
Der Tod Jesu am Kreuz zum Beispiel wurde für uns aufgezeichnet und in den Evangelien und Briefen erklärt. Die Menschen betrachteten den Tod Jesu auf unterschiedliche Weise. Für viele seiner Anhänger war er eine tragische Enttäuschung. Für Pontius Pilatus und Kaiphas war er politisch von Nutzen. Wenn der Apostel Paulus die Bedeutung des Kreuzes erläutert, stellt er es als kosmischen Erlösungsakt dar – als Sühne, die angeboten wird, um der Gerechtigkeit Gottes Genüge zu tun, und als Wahrheit, die man nicht unmittelbar erkennt, wenn man nur das Ereignis an sich betrachtet.
Neoorthodoxe Theologen sagen auch, dass die Bibel keine Offenbarung ist, sondern ein Zeugnis von der Offenbarung, was die Autorität der Bibel erheblich schmälert. Sie behaupten, dass die Schrift zwar eine gewisse historische Bedeutung hat und Zeugnis für die Wahrheit ablegt, dass es sich bei der Schrift jedoch nicht um die Offenbarung an und für sich handelt. Im Gegensatz dazu bekennen orthodoxe Christen, dass die Bibel nicht nur Zeugnis von der Wahrheit ablegt, sondern selbst die Wahrheit ist. Sie ist göttliche Offenbarung. Sie weist nicht einfach über sich selbst hinaus – sie übermittelt uns nichts weniger als das wahre Wort Gottes.