Die Behauptung, dass der Verlust der Gottesfurcht die Hauptursache dafür ist, dass unsere Kultur von Angst beherrscht wird, ist ein echter Schlag für den Atheismus, denn dieser versprach genau das Gegenteil. Der Atheismus behauptete, wenn man die Menschen vom Glauben an Gott befreit, dann werden sie auch ihre Angst los. So argumentierte Bertrand Russell 1927 in seiner berühmten Erklärung Warum ich kein Christ bin:
»Die Religion stützt sich vor allem und hauptsächlich auf die Angst. Teils ist es die Angst vor dem Unbekannten und teils, wie ich schon sagte, der Wunsch zu fühlen, dass man eine Art großen Bruder hat, der einem in allen Schwierigkeiten und Kämpfen beisteht. Angst ist die Grundlage des Ganzen – Angst vor dem Geheimnisvollen, Angst vor Niederlagen, Angst vor dem Tod. Die Angst ist die Mutter der Grausamkeit, und es ist deshalb kein Wunder, dass Grausamkeit und Religion Hand in Hand gehen, weil beide aus der Angst entspringen. Wir beginnen nun langsam, die Welt zu verstehen und sie zu meistern, mit Hilfe einer Wissenschaft, die sich gewaltsam Schritt für Schritt ihren Weg gegen die christliche Religion, gegen die Kirchen und im Widerspruch zu den überlieferten Geboten erkämpft hat. Die Wissenschaft kann uns helfen, die feige Furcht zu überwinden, in der die Menschheit seit so vielen Generationen lebt. Die Wissenschaft, und ich glaube auch unser eigenes Herz, kann uns lehren, nicht mehr nach einer eingebildeten Hilfe zu suchen und Verbündete im Himmel zu ersinnen, sondern vielmehr hier unten unsere eigenen Anstrengungen darauf zu richten, die Welt zu einem Ort zu machen, der es wert ist, darin zu leben, und nicht zu dem, was die Kirchen in all den Jahrhunderten daraus gemacht haben.«
Während Russell auf tragische Weise missversteht, was es für den Christen bedeutet, Gott zu fürchten, fällt es einem schwer, nicht darüber zu lachen, wie falsch seine Prophezeiung gewesen ist. Fast ein Jahrhundert nachdem er diese Worte gesagt hat, kann kaum jemand leugnen, dass das Ablegen der Gottesfurcht unsere Gesellschaft nicht glücklicher und weniger ängstlich gemacht hat. Ganz im Gegenteil – dies anerkennt auch der streng atheistische Professor Frank Furedi, der als internationaler Experte für unsere moderne Kultur der Angst bezeichnet werden könnte.
Natürlich war es nicht nur Bertrand Russell, der behauptete, dass uns mehr Selbstständigkeit und weniger Gottesfurcht helfen würden. Die ganze Prämisse der Aufklärung war, dass der Fortschritt unseres Wissens unsere Probleme und abergläubischen Ängste vertreiben würde. Dieses Vertrauen in die menschliche Vernunft finden wir auf dem Titelbild von Christian Wolffs herrlich ambitioniertem Buch aus dem Jahr 1720 Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt: Den Liebhabern der Wahrheit mitgeteilt auf klassische Weise dargestellt.
Der Stich zeigt die glückliche Sonne des Wissens, wie sie die düstere alte Welt des Glaubens erhellt und die Schatten und die Dunkelheit der Angst und des Aberglaubens vertreibt. Ein schöner Gedanke für das 18. Jahrhundert – aber auch hier ist genau das Gegenteil eingetreten. Während wir heute alle unsere Smartphones und GPS-Geräte lieben, müssen wir dennoch anerkennen, dass der Fortschritt des Wissens nicht der reine Segen ist. Es ist nur allzu offensichtlich, dass neue Technologien Konsequenzen haben, die wir nicht vorhersehen können. Als du zum Beispiel dein erstes Smartphone gekauft hast, ahntest du nicht, welchen Einfluss es auf dein Sozialverhalten oder deine Schlafgewohnheiten haben würde. Als du zum ersten Mal soziale Medien benutzt hast, sahst du zwar einige potenzielle Vorteile, hattest aber keine Vorstellung davon, wie es deine Angst nähren würde, etwas zu verpassen. Mehr Wissen bedeutet nicht unbedingt weniger Angst, sondern häufig mehr.
Die vielleicht größte Ironie ist jedoch, dass die freischwebende Angst, die unsere »aufgeklärte« und gottlose Gesellschaft erfüllt, in Wirklichkeit nichts anderes ist als derselbe primitive Aberglaube, von dem wir dachten, dass das Wissen ihn ausrotten würde. Im Jahr 1866 hielt Charles Kingsley an der Royal Institution in London einen Vortrag mit dem Titel Aberglaube. In diesem Vortrag definierte er Aberglaube als jene Angst vor dem Unbekannten, die nicht von der Vernunft geleitet wird. Genau das sehen wir heute in unserer Gesellschaft. Es ist für uns nicht offensichtlich, dass unsere Ängste tatsächlich abergläubischer Natur sind, denn laut Kingsley versuchen wir immer, unseren Aberglauben vernünftig aussehen zu lassen. Als Beweis nannte Kingsley beispielsweise das Lehrbuch für Hexerei aus dem 15. Jahrhundert, den Hexenhammer Malleus Maleficarum. Dieser versuchte, aus der Hexensuche eine Wissenschaft zu machen und schürte den angsterfüllten abergläubischen Drang, Hexen aufzuspüren, indem er diesem eine scheinbar wissenschaftliche Grundlage gab. Gemäß dem Malleus Maleficarum konnte man nicht in Frage stellen, dass es Hexen unter uns gab, denn diese Sorge galt als vernünftig und wissenschaftlich nachweisbar. Sie war jedoch der reine Aberglaube, wie Kingsley darlegte. Obwohl das Wissen beträchtlich anwuchs, blieb solch unhinterfragter und Angst einflößender Aberglaube zu seiner Zeit bestehen. Der bloße Fortschritt in Wissen und Technologie beseitigt die Angst nicht.
Was macht unsere Kultur nun mit all ihrer Angst? Angesichts ihres säkularen Selbstverständnisses wird sich unsere Gesellschaft nicht Gott zuwenden. Die einzig mögliche Lösung muss also sein, dass wir sie selbst in den Griff bekommen. So versucht die westliche Gesellschaft seit der Aufklärung, die Angst mit medizinischen Mitteln zu therapieren. Die Angst ist zu einer schwer fassbaren Krankheit geworden, die medikamentös behandelt werden muss. (Ich will hier nicht andeuten, dass die Einnahme von Medikamenten gegen Angst falsch ist, sondern, dass sie nur eine – manchmal wichtige – Linderungsmaßnahme und keine endgültige Lösung ist.) Doch dieser Versuch, Angst so zu eliminieren, wie man eine Krankheit ausrotten würde, hat das Wohlbefinden (also die völlige Abwesenheit von Angst) zu einer gesundheitlichen – ja sogar zu einer moralischen – Komponente gemacht. Wo Unbehagen einst als ganz normal und für bestimmte Situationen durchaus angemessen galt, wird es nun als etwas grundsätzlich Ungesundes angesehen. Das bedeutet zum Beispiel, dass ein Universitätsstudent sagen kann: »Ihre Ansichten sind mir unangenehm«, und dies als legitimes Argument dafür angesehen wird, die Diskussion abzubrechen. Immerhin ist es nicht akzeptabel, jemandem Unbehagen zu bereiten.
Es bedeutet, dass in einer Kultur, die von Furcht und Angst überflutet wird, Angst zunehmend als etwas völlig Negatives angesehen wird. Die Christen sind von dieser Mainstream-Meinung auch mitgerissen worden und haben die negative Einschätzung der Gesellschaft über alle Angst übernommen. Kein Wunder also, dass wir uns scheuen, über die Gottesfurcht zu sprechen, obwohl sie in der Heiligen Schrift und im christlichen Denken historisch gesehen eine herausragende Rolle spielt. Das ist völlig verständlich, aber es ist tragisch: Der Verlust der Gottesfurcht hat unser modernes Zeitalter der Angst eingeleitet. Doch dieselbe Gottesfurcht ist das wahre Gegenmittel gegen unsere Ängstlichkeit.