Timothy Keller

Das Evangelium vor Augen gemalt

Das Evangelium vor Augen gemalt

In Galater 3,1–3 erinnert Paulus die galatischen Christen daran, wie sie vom Heidentum zu Christus gekommen sind: indem ihnen »Jesus Christus vor die Augen gemalt« wurde »als der Gekreuzigte« (V. 1). Dieses »Malen« geschah durch »die Predigt« (V. 2 u. 5). Es geht also nicht um ein Gemälde im wörtlichen Sinne, sondern um ein geistiges Bild. Es geht um eine Botschaft – »Jesus Christus ... als der Gekreuzigte« (vgl. 1 Kor 2,1–5). Man beachte, dass der Kern dieser Botschaft nicht darin besteht, wie wir leben sollen, sondern was Jesus am Kreuz für uns getan hat. Das Evangelium ist zuallererst eine Verkündigung historischer Ereignisse und erst danach eine Anweisung zum Leben. Es ist zuerst die Proklamation, was Gott für uns getan hat, und erst danach eine Wegweisung, was wir tun müssen.

»Das Evangelium ist zuallererst eine Verkündigung historischer Ereignisse und erst danach eine Anweisung zum Leben.«
Aber es heißt auch, dass diese Botschaft das Herz der Zuhörer ergriffen hat. Jesus wurde ihnen »vor die Augen gemalt«. Die Einheitsübersetzung präzisiert »deutlich vor Augen gestellt«, Viebahn übersetzt »lebendig vor die Augen gemalt«. Gemeint ist wahrscheinlich die innere Kraft der Predigt. Sie war nicht trocken und belehrend, sondern malte ein Bild von Jesus und vermittelte den Zuhörern eine bewegende Vorstellung von dem, was Christus für uns getan hat. In 1. Thessalonicher 1,5 schreibt Paulus: »Denn unser Evangelium kam zu euch nicht allein im Wort, sondern auch in der Kraft und in dem Heiligen Geist und in großer Fülle.« Ein Christ ist nicht jemand, der Kenntnisse über Jesus hat, sondern jemand, der ihn am Kreuz »gesehen« hat. Es rührt unser Herz an, wenn wir nicht nur sehen, dass er starb, sondern dass er für uns starb. Wir erkennen die Bedeutung seines Werkes für uns. Unsere Errettung geschieht durch eine Präsentation dessen, was Christus für uns getan hat, die sowohl den Verstand überzeugt als auch das Herz bewegt.

Genau das war bei diesen Christen in Galatien geschehen. Sie glaubten der Predigt, die sie hörten (Gal 3,2b). Verse 2 und 3 sind parallel gebaute Sätze. Paulus kontrastiert den »Glauben« mit »des Gesetzes Werke[n]«, also mit dem Befolgen des Gesetzes, und »im Geist habt ihr angefangen« mit »im Fleisch vollenden«. Das Evangelium zu glauben bedeutet mehr, als gewissen Aussagen über Christus zuzustimmen (dass er z. B. starb und auferstand). Es bedeutet, dass ich aufhöre, meine Erlösung in der Befolgung des Gesetzes zu suchen. Das »vollenden« in Vers 3 ist die Übersetzung des griechischen epi-teleo (NGÜ: »das Ziel erreichen«). Paulus beschreibt hier unseren normalen Lebenslauf. Wir alle versuchen, uns zu »vollenden« – uns vor Gott, uns selbst und den Mitmenschen angenehm zu machen –, und wir setzen darauf, dies durch unsere moralischen, beruflichen und Beziehungsleistungen zu erreichen. Paulus sagt, dass, an das Evangelium zu glauben, bedeutet, diesen Versuch aufzugeben. Wir hören auf, das Ziel durch das Befolgen des Gesetzes (»des Gesetzes Werke«, V. 2) erreichen zu wollen.

»Geist und Wort sind untrennbar verbunden. Der Geist wirkt nicht ohne das Evangelium. Das Evangelium ist der Kanal der Kraft des Geistes.«
Bevor wir Christen wurden, vertrauten wir darauf, dass verschiedene Projekte der persönlichen Anstrengung uns das Gefühl der Vollkommenheit geben würden. Der Glaube an Christus bedeutet eine komplette Revolution unseres Weges zu unserem Ziel. Ein altes Kirchenlied von Paul Gerhardt fasst das Ganze so zusammen: Der Grund, da ich mich gründe, ist Christus und sein Blut; das machet, dass ich finde das ew’ge, wahre Gut. An mir und meinem Leben ist nichts auf dieser Erd; was Christus mir gegeben, das ist der Liebe wert.

Das Ergebnis des Glaubens an das lebendig vor Augen gemalte Evangelium Christi war, dass die Galater »den Geist empfangen« haben (V. 2). Der Heilige Geist kommt, wenn jemand an die Gnade allein durch Christus allein glaubt. Die Wiedergeburt, die Paulus beschreibt, ist direkt und untrennbar mit dem Glauben an das Evangelium verbunden. Darum kann Jesus sagen, dass wir durch den Geist wiedergeboren werden (Joh 3,5), während Jakobus (Jak 1,18) und Petrus (1 Petr 1,23) sagen, dass wir durch das Wort Gottes wiedergeboren werden. Geist und Wort sind untrennbar verbunden. Der Geist wirkt nicht ohne das Evangelium. Das Evangelium ist der Kanal der Kraft des Geistes.

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