Michael Reeves

Beten Evangelikale die Bibel an?

Beten Evangelikale die Bibel an?

»Das erste Hauptmerkmal evangelikalen Glaubens«, schrieb J.C. Ryle, »ist die absolute Vorrangstellung, die er der Heiligen Schrift einräumt, als einziger Richtschnur des Glaubens und Lebens, als einzigem Prüfstein der Wahrheit, als einzigem Richter im Streitfall.«

Der authentische Evangelikalismus hängt von unserer Unterordnung unter Gottes Wort als unserer höchsten Autorität ab. Wo Gott gesprochen hat, da gehorchen wir. Manchmal wird Evangelikalen der Vorwurf gemacht, dass sie bei ihrer so hohen Sicht auf die Schrift der Bibliolatrie zu bezichtigen sind, d.h. der Anbetung der Bibel. Natürlich neigen Evangelikale dazu, diese Anschuldigung schnell abzutun, doch es kann tatsächlich etwas daran sein. Wie Bernard Ramm schrieb: »Die Versuchung des Biblizismus besteht darin, dass er von der Inspiration der Schrift ohne den Herrn, den diese bezeugt, sprechen kann.« Das heißt, wir können die Sünde der Pharisäer begehen, indem wir die Schrift sorgfältig studieren, weil wir denken, dass wir in ihnen ewiges Leben haben, aber nicht zu Christus kommen, von dem sie Zeugnis geben (vgl. Joh 5,39–40). Ein solcher Biblizismus kann per Definition nicht wahrhaftig evangelikal sein, denn er ignoriert das Evangelium.

»Die Versuchung des Biblizismus besteht darin, dass er von der Inspiration der Schrift ohne den Herrn, den diese bezeugt, sprechen kann.«
Das Problem dabei ist jedoch nicht die hohe Sicht auf die Schrift, die auch Jesus selbst hatte. Die Schwierigkeit liegt vielmehr beim Gedanken, dass das Leben in der Bibel allein zu finden sei, als ob das bloße Verstehen der Schrift mit dem rettenden Glauben gleichgesetzt werden könnte. Eine solche Sichtweise ist nicht biblisch und daher nicht evangelikal. Die Bibel weist nicht auf sich selbst hin. Vielmehr sind die Heiligen Schriften es, »die dich unterweisen können zur Seligkeit durch den Glauben an Christus Jesus« (2Tim 3,15). Sie sind Gottes Offenbarung des Sohnes durch den Geist. Wie J.I. Packer es ausdrückte:

»Die Heilige Schrift sollte als Predigt Gottes betrachtet werden: Gott predigt jedes Mal zu mir, wenn ich einen Teil davon lese oder höre. Gott, der Vater, predigt Gott, den Sohn, in der Kraft von Gott, dem Heiligen Geist. Gott, der Vater, ist der Geber der Heiligen Schrift; Gott, der Sohn, ist das Thema der Heiligen Schrift; und Gott, der Geist, (als der, welcher vom Vater eingesetzt ist, um den Sohn zu bezeugen) ist der Autor, Beglaubiger und Ausleger der Heiligen Schrift.«

Evangelikale stehen daher unerbittlich unter der Schrift, aber diese Haltung sollte uns nicht zu Legalisten, Pedanten oder Bibel-Anbetern machen. Denn, so wie es für Jesus selbst war, ist die Schrift auch für uns nicht das Endziel: Gott ist es! Die vom Geist eingegebene Schrift bezeugt Christus, das lebendige Wort des Vaters, damit wir zu ihm kommen und das Leben haben.

Autor: